«Die Schweiz fliegt planlos in die Zukunft» (Leserbriefe NZZaS)

Publiziert von VFSNinfo am
Unser Wohlstand stehe auf dem Spiel, heisst es im Artikel. Man könnte meinen, die gesamte Volkswirtschaft sei abhängig vom stetig wachsenden Luftverkehr. Als ob die erwähnten 20\'000 Studierenden täglich mit dem Flugzeug zur ETH gelangten oder unsere Exportleistungen nur per Flugzeug ihre Destinationen erreichten.  Gerade an der Uni und der ETH beschäftigt man sich intensiv mit Nachhaltigkeit und sieht in der Vermeidung von Flügen einen wichtigen Bereich.
Nach den Terroranschlägen von 9/11 im Jahre 2001 brach weltweit die Luftverkehrsindustrie zusammen, und es dauerte Jahre, bis sie das Niveau von vorher wieder erreicht hatte.
In dieser Zeit verzeichnete die Schweizer Wirtschaft kaum einen Rückgang. Auch das Grounding der Swissair hinterliess in den Statistiken der Arbeitsplätze und des Wirtschaftswachstums nicht die geringsten negativen Spuren.
Die wahre Herausforderung unserer Wirtschaft ist es, die Zukunft so zu gestalten, dass die Umwelt nicht Schaden leidet. Innovationen sind gefragt und nicht zusätzliche Anreize für umweltschädigendes Verhalten. Umweltsünder sollen die wahren Kosten ihres Verhaltens übernehmen. Fast 20 Prozent des Schweizer CO2­Ausstosses ist dem Luftverkehr zuzuordnen. Im Grossraum Zürich leiden täglich über eine viertel Million Menschen an Lärmimmissionen durch Flugzeuge ab sechs Uhr morgens bis kurz vor Mitternacht. Dass neue Flugzeuge leiser sind als alte, mag stimmen, sie sind aber laut genug, um die Bevölkerung sehr früh morgens zu wecken und abends nicht einschlafen zu lassen. Von einer siebenstündigen Nachtruhe ist im Süden des Flughafens Zürich seit 2003, sprich seit 15 Jahren keine Rede mehr. Frau Voigt sieht den Wohlstand in Gefahr und stuft hierbei die Wirtschaft höher ein als die Bedürfnisse der Bevölkerung auf Ruhe und eine intakte Umwelt. Sie ist damit mit dem Bundesamt für Zivilluftfahrt in guter Gesellschaft.
Edi Rosenstein, Präsident Verein Flugschneise Süd - Nein, Fällanden (ZH)

Es gibt eine einfache Lösung, um das Problem der Kapazität des Flughafens Zürich langfristig zu sichern: die Parallelpisten! Man muss nur dazu den Mut aufbringen, der erbarmungslosen Zensur der «politischen Korrektheit» zu trotzen.
Corneliu Constantinescu, Benglen (ZH)

10\'000 multinationale Firmen und 49 internationale Organisationen seien in der Schweiz angesiedelt, schreibt Birgit Voigt im Artikel. Erfreulich. Wozu sollten nun noch mehr Flugbewegungen für die Wirtschaft erforderlich sein, und will man bei quasi null Prozent Arbeitslosigkeit weiterhin grenzenlos Firmen in die Schweiz locken und das Land zubauen? Die Firmen kamen auch, weil das Leben in der Schweiz mit den bestehenden Umweltbedingungen lebenswert ist. Welchen Sinn sollte es machen, mit mehr Touristenflügen mehr Geld in die Welt zu schicken?
Es ist eine wahnwitzige Idee, einen Flughafen in unmittelbarer Stadtnähe und in einer dichtbesiedelten Region rücksichtslos zu einem übergrossen Hub ausbauen zu wollen. Dabei wird immer wieder das Argument der Kanalisierung des Fluglärms missbraucht. Das ist beliebt bei Politik, Bazl und Flughafen. Mit der Frage an die Bevölkerung,
ob die Routen kanalisiert werden sollen, lässt sich leicht eine Zustimmung von 80 oder 90 Prozent erreichen. Diese Fragestellung ist jedoch unlauter. Sie müsste viel eher heissen: Sind Sie für eine Kanalisierung der Routen, wenn diese direkt über Ihre Wohnung führen? Anstatt mit der Kanalisierung künstlich Minderheiten zu erzeugen, muss stattdessen die Lärmverteilung mit Respekt vor den Menschen fair sein. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten kann es kein Problem mehr sein, eine solche Verteilung zu steuern.
Manfred Ludwig, Oberrohrdorf (AG)

Kommentar VFSN zum obenstehenden Leserbrief:
Erstaunlich, dass die Fluglärmverteilung immer noch für ein Wundermittel gehalten wird. Die Fluglärmverteilung ist nicht die Lösung, sie ist das Problem.

  • Fluglärmverteilung widerspricht Verfassung, Gesetz und Verordnungen .
  • Fluglärmverteilung heisst nichts anderes als dem Flughafen sämtlichen Flugrouten zu öffnen, die Grundlage für massive Kapazitätserhöhung und die Grundlage den Traum des Super-Hubs für den Flughafen zu realisieren.
  • Fluglärmverteilung führt dazu dass rechnerisch gesehen fast niemand mehr Lärm hat. Der Flughafen spart Millionen an Entschädigungen, fliegen wird noch billiger und weil es billig ist wird noch mehr geflogen.
  • Auch wenig Fluglärm reicht um Menschen am Einschlafen zu hindern und am Morgen zu wecken.
  • Bezeichnend, dass die Anhänger der Fluglärmverteilung fast ausnahmslos freiwillig in den Fluglärm gezogen sind weil dort das Wohnen billiger ist oder der Arbeitsplatz am Flughafen sehr nahe liegt. Genau gesehen wollen die Fluglärmverteiler kein Fluglärm verteilen, sondern abschieben. Wenn hier etwas „unlauter“ ist, dann den Fluglärm unter dem Deckmantel der Fluglärmfairteilung abzuschieben.

Leserbriefe NZZ am Sonntag, 21.10.2018, zum Artikel: Die Schweiz fliegt planlos in die Zukunft, NZZaS vom 14.10.2018, siehe unten:  


Die Schweiz fliegt planlos in die Zukunft

Beim Thema Fluginfrastruktur herrscht völlige Blockade. Eine Studie fordert jetzt dringend einen Plan, wie es ab 2030 weitergehen soll. Sonst stehe der Wohlstand der Schweiz auf dem Spiel.

Als 2001 die Swissair pleite ging, war die Schweiz schockiert. Es dauerte aber nicht lange, bis sich Politik und Wirtschaft zu einem kollektiven Aktionsplan zusammenfanden, der nur ein Ziel hatte. Dem Land sollte unter allen Umständen eine lokal basierte, auf die Interessen der exportorientierten Wirtschaft abgestimmte Fluggesellschaft erhalten bleiben. Mit dem Mut der Verzweiflung und einer gehörigen Kapitalspritze stemmten die damaligen Akteure eine neue Fluggesellschaft auf die Startpiste.
Eine heute publizierte Studie des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group (BCG) ruft die Bedeutung einer wettbewerbsfähigen Fluginfrastruktur in Erinnerung und schlägt gleichzeitig Alarm. Denn die Schweiz hat keinerlei Pläne, wie die schon weitgehend ausgereizten Kapazitäten über das Jahr 2030 hinaus entwickelt werden sollen.
Gemäss «The Swiss Aviation Ecosystem - Flying blind after 2030» zählt die Schweiz zu den am besten erreichbaren Destinationen weltweit. Das ist eine wichtige Komponente für die rund 10 000 multinationalen Firmen und die 49 internationalen Organisationen - von der Uno über die Fifa –, die hier angesiedelt sind. Sie erlaubt der Basler Art, die globale Führung bei den Kunstmessen zu beanspruchen und der Hochschule ETH, 20\'000 Studierende aus aller Welt zu begrüssen. Sie ist eine Voraussetzung für den Tourismussektor.
Den direkt messbaren Nutzen, den der aviatische Sektor ermöglicht, schätzen die Studienautoren auf rund 16,5 Mrd. Fr: «Doch der Nutzen für die Gesamtwirtschaft ist um ein Vielfaches höher. Über den damit verbundenen Wert für Gesellschaft und Wirtschaft sind sich viele nicht im Klaren», sagt Daniel Kessler, Lead-Autor der Studie und Chef von BCG Schweiz. Ähnlich einer Grunddienstleistung wie beispielsweise stets verfügbarer Elektrizität oder schneller Datenübertragung macht sich Verkehrsinfrastruktur eben nur dann bemerkbar, wenn sie fehlt.

Blockadepolitik

Grundsätzlich stellen zwar selbst radikale Fluglärmgegner den Bedarf an Flugverbindungen nicht infrage. Doch der Tenor nicht nur dieser lautstarken Gruppe ist inzwischen: «Mehr Flugverkehr braucht es nicht.» In Trippelschritten sollen bis 2030 an den drei Landesflughäfen Zürich, Genf und Basel Kapazitäten optimiert werden. Was danach kommt, scheint niemanden zu interessieren.
Ganz anders ist da doch die Einstellung von Politik und Öffentlichkeit zur Bahn. Letztes Jahr beschloss der Bundesrat, bis 2035 Ausbaupläne für 11,5 Mrd. Fr. zu realisieren. 200 Projekte sind schon konkretisiert und in den politischen Prozess eingespeist. Die Begründung ist so banal wie einleuchtend. «Die Nachfrage wächst stark.»
Wann hat man das letzte Mal die gleiche Logik auf die Schweizer Fluginfrastruktur angewandt? Auch hier haben sich die Passagierzahlen seit 2000 - dem damaligen Zenit der Swissair - von 22,7 Mio. Passagieren auf rund 30 Mio. in 2018 hochgeschraubt.
Die Schweizer fliegen im Durchschnitt dreimal häufiger als Bewohner benachbarter Länder. Selbst wenn - wie zu Recht gefordert - der Flugverkehr bald seine wahren Umweltkosten über zusätzliche Ticketgebühren bezahlen muss, wird sich das Wachstum nur verlangsamen.
Dabei geht es den Autoren, die die Studie in Zusammenarbeit mit der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer erarbeitet haben, nicht um die Diskussion kurzfristiger Einzelmassnahmen. «Obwohl die aviatische Infrastruktur für unser Land zentral ist, gibt es über die unmittelbare Planung für die nächsten zwölf Jahre keinerlei politische Vision, wie dieser Bereich sich weiterentwickeln soll», hält Kessler fest. «Wir vermissen über den Zeitraum 2030 hinaus einen Ansatz, der sich nicht darauf beschränkt, einzelne Flughäfen zu optimieren, sondern das Gesamtsystem.»
Angesichts der langen Zeiträume, die Veränderungen in der Schweiz benötigen, müssten sich die Verantwortlichen beim Bund, den Kantonen und der Wirtschaft jetzt engagieren: «Wenn wir bei der aviatischen Infrastruktur nicht den Anschluss verlieren wollen, müssen wir nun darüber nachdenken, wie wir die Zukunft gestalten», so Kessler.
Andere Länder schaffen diese Herausforderung besser. Die Studie nennt als Beispiel die Niederlande. Das ähnlich international ausgerichtete Land in vergleichbarer Dimension hat sich vor neun Jahren eine langfristige Luftfahrtstrategie erarbeitet, die weit in die Zukunft reicht. Die Niederländer adressieren auch Zielkonflikte zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen, die sie über einen Schlichtungspfad lösen wollen.
Das Bundesamt für Zivilluftfahrt bestätigt, dass es über den luftfahrtspolitischen Bericht (Lupo) aus dem Jahr 2016 hinaus keine Ansätze gebe, die über 2030 den Weg der Schweizer Luftfahrt skizzierten. Der Sprecher erklärt, man «diskutiere intern, ob eine Studie für den Zeithorizont 2050 in Angriff genommen werden soll».
Für Martin Naville, CEO der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer, ist das keine Frage. «Hier fehlt völlig der Mut.» Derzeit machten alle politischen Verantwortlichen einen grossen Bogen um die Frage, wie man mit der steigenden Nachfrage umgehen wolle. Das Wort Kapazitätsausbau werde tunlichst vermieden. Doch man müsse zumindest offen alle Ansätze und Konsequenzen ansprechen.
Auch wenn Naville die für das Dossier zuständige Bundesrätin Doris Leuthard nicht ganz direkt kritisieren will, weist er Verantwortung zu. «Der Bund muss hier die Führung übernehmen und den Diskussionsprozess koordinieren.» Danach brauche es klare, durchsetzbare Vorgaben an die Flughäfen. «Wir können nicht einfach blind in die Zukunft fliegen. Die Zaghaftigkeit in diesem Bereich ist dramatisch.»
Viele Gegner jeglichen Ausbaus von Fluginfrastruktur werden aber weiter darauf setzen, den Status quo einfrieren zu kön-nen. Doch Stillstand übersetzt sich in der Regel in Rückschritt in einem Umfeld, in dem Wettbewerber sich verbessern. Die BCGExperten warten mit Szenarien auf, die zeigen, wie schnell eine Verschlechterung der internationalen Anbindung eintreten könnte.

Hub-Status in Gefahr

So sind die für die Wirtschaft zentralen Langstreckenangebote ab Zürich, die die Swiss dank einem Umsteige-System (Hub) aufgebaut hat, nach Ansicht der Autoren nicht für Generationen in Stein gemeisselt. Sie weisen auf den Kapazitätsausbau an anderen Lufthansa-Drehscheiben hin (München, Frankfurt, Wien).
Da in Zürich praktisch kein Wachstum mehr möglich sei, riskiere der Standort eine Bedeutungserosion in den Plänen der Fluggruppe: «Wenn Zürich das Kapazitätsthema nicht anpackt, riskiert der Flughafen den HubStatus. Und damit eine Situation, die sich nur noch verschlechtert», heisst es recht dramatisch in der Studie. Dem kann man kritisch entgegenhalten, dass derzeit die Swiss an ihrem Heimatflughafen bei weitem das meiste Geld in der ganzen Gruppe verdient.
Aber auch Flughafen-ZürichChef Stephan Widrig warnt vor zu viel Selbstsicherheit: «Niemand zweifelt daran, dass unsere Welt international immer vernetzter wird. Auch der Standortwettbewerb wird in einer globalen Welt weiter zunehmen. Airlines steuern ihre Netzwerke zunehmend über die Gruppe und können schnell umdisponieren, wenn die Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen.» Auch er ruft ins Gedächtnis, dass wegen der langen Verfahrensdauer heute die Weichen gestellt würden für die Anbindung der Schweiz in zehn Jahren. «Findet keine Anpassung der heutigen Grundlagen statt, wird die Schweiz in Zukunft an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verlieren.»

Von Birgit Voigt

NZZ am Sonntag, Seite 27

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