Von Matthias Baer
«Ein Bundesrat für die junge Schweiz», jubelte der «Blick», als Moritz Leuenberger im September 1995 in die Landesregierung gewählt wurde. «Ein Bundesrat zum Anfassen», freute sich der «Tages-Anzeiger». In der Zürcher Innenstadt feierten Tausende von Menschen seinen Sieg. Kinder verlangten Autogramme, als wäre ein Fussballstar angekommen. Und in Bundesbern erntete der neue Minister schon bald viel Lob und Anerkennung für seinen Stil.
Lange ists her. Inzwischen wird der einstige Medienliebling mit Kritik regelrecht eingedeckt. «Facts» sah ihn bereits vor einem Jahr in «seinem letzten Gefecht», die «SonntagsZeitung» ortete ihn Ende November «mit dem Rücken zur Wand», und die «Weltwoche» rügt den angeschlagenen Minister sowieso ohne Unterlass. «Leuenberger bekommt zu spüren, dass die linke Grundsolidarität in den Medien ganz allgemein schwindet», sagt Politologe Andreas Ladner.
Hinzu kommt ein immer grösserer politischer Druck - nicht nur von der SVP, die ihn am Mittwoch nicht zum Bundespräsidenten wählen will, sondern auch von Teilen des Freisinns. Aus der Bevölkerung schliesslich wird er längst nicht mehr nur mit Autogrammwünschen beglückt. Zwar will ihn immerhin jeder Vierte als nächsten Bundespräsidenten, wie gestern eine Umfrage von «Le Matin dimanche» ergab. Doch polarisiert er stark in Freund und Feind. Im September musste die Zürcher Stadtpolizei Massnahmen ergreifen, weil Fluglärmgegner den am Zürichberg Residierenden privat belästigt hatten. (Anm. VFSN: Die Belästigung bestand aus einer Person, mit der BR Leuenberger noch persönlich gesprochen hat, siehe auch: Moritz Leuenberger krebst zurück (Glattaler) und Rechtliche Schritte - und was daraus wird (VFSN))
Sechs Gründe für den NiedergangEs ist offensichtlich: Dem amtsältesten Bundesrat droht das Schicksal eines Buhmanns. Was ist da passiert? Woher kommt die Enttäuschung, die zumindest einen Teil der Öffentlichkeit erfasst hat? Was hat sich verändert?
Symbolpolitik schürt Misstrauen. Leuenbergers Wahl in den Bundesrat löste vor allem aus symbolischen Gründen Begeisterung aus und nicht wegen seiner Sachpolitik. Endlich schaffte es ein kulturinteressierter Städter ins ländlich dominierte Gremium, ein untypischer Politiker überdies, der sich und seine Macht nicht so ernst zu nehmen schien. Der Kandidat betrieb seine symbolische Aufladung eifrig selbst mit und pries sich als Vertreter einer «modernen, städtischen Schweiz». Nach zehn Jahren interessiert diese Symbolik keinen mehr. Nach zehn Jahren interessiert allein die Leistungsbilanz, egal ob einer im Schiffbau verkehrt oder am TV «Benissimo» schaut. Und da hat Leuenberger gleich zwei gravierende Schwierigkeiten. Zum einen scheint es im Uvek derzeit mehr Probleme als Lösungen zu geben: das Neat-Finanzloch, der Anflugstreit um Zürich, die Enthüllungen über den Bazl-Chef. Zum anderen erweckt der Minister selbst unablässig den Eindruck, ihm sei solche Sachpolitik nicht so wichtig. Er betont, dass ein Politiker auch ein Philosoph sein müsse. Doch wirkt er, als wäre er fast nur Philosoph - auch wenn sein Umfeld betont, dies treffe nicht zu und er betreibe fleissig Tagespolitik. «Sein Problem ist», urteilt Politberater Iwan Rickenbacher, «dass er nur ungenügend zeigt, wo und wie er in die Sachgeschäfte eingreift.»
Im grössten Spannungsfeld. Bereits als Leuenberger das Verkehrs- und Energiedepartement von Adolf Ogi übernahm, war dies ein wichtiges Amt. In den vergangenen zehn Jahren aber entwickelte sich das Uvek zum eigentlichen Schlüsseldepartement. Die grösste Konfliktlinie zwischen links und rechts geht hier durch, nämlich der Streit über das richtige Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft. Es geht um den Service public, um Deregulierungen, Liberalisierungen und Privatisierungen. Lieber heute als erst morgen wollen die Bürgerlichen - und insbesondere die SVP - das Departement zurückerobern, um im Infrastrukturbereich mehr Markt durchzusetzen. Der linke Minister steht deshalb unter rechtem Dauerbeschuss. Nicht anders erging es Ruth Dreifuss im wichtigen Innenministerium, das nach ihrem Abgang sofort zurück an die Bürgerlichen fiel.
Ruf nach harten Typen. Ein feinsinniger Schriftsteller-Politiker mochte in die Neunzigerjahre passen, als man bereits vom Ende der Geschichte schwadronierte und nur noch Detailfragen auf einen zukommen sah. Heute, da die Probleme weit grösser sind - etwa die Wachstumsschwäche oder die Finanzierung der Sozialwerke - und von der Denkfabrik Avenir Suisse noch grösser aufgeblasen werden, scheinen Machertypen gefragt zu sein. Als Gegensatz zum sinnierenden Verkehrsminister arbeitet die SVP sehr bewusst am Bild des tatkräftigen Justizministers. «Christoph Blocher leidet nicht am Amt wie Moritz Leuenberger», weiss Nationalrat Christoph Mörgeli, «er arbeitet, auch wenn er müde ist oder nicht in Stimmung.» Zum Machertypen gehört auch eine demonstrative Bescheidenheit, denn erst sie macht die angeblich so kargen Zeiten glaubhaft. So arbeitet Blocher einfach in der Büroeinrichtung von Vorgängerin Ruth Metzler weiter, während Leuenberger seine Räume grosszügig umbauen liess. Ob dies wirklich Kriterienfür die Beurteilung eines Politikers sind und ob nachts Blocher oder Leuenberger zuletzt das Licht im Büro ausschaltet, bleibt offen. Es geht nicht um die Wirklichkeit, sondern um den medialen Schein von Tatkraft.
Kritik an Achtundsechzigern. Leuenbergers Prägung durch 1968 war in den Medien vor zehn Jahren ein grosses Thema, auch wenn er selbst nur ein Zaungast der Bewegung war. Fast bewundernd wurde sein Lebenslauf heruntergebetet, der nicht traditionell verlief und Brüche aufweist. «Er lebt im Konkubinat. Er hat eine eigenständige Partnerin. Sein Sohn war drogensüchtig», zählte die «SonntagsZeitung» auf. Inzwischen hat sich die gesellschaftliche Öffnung, die Ende der Sechzigerjahre begann, weit gehend durchgesetzt. Verschiedene Lebensstile und Familienformen existieren gleichberechtigt nebeneinander. Nicht einmal mehr ein homosexueller Parlamentspräsident gibt gross zu reden. Leuenbergers Vita ist zum Lebenslauf unter vielen geworden. Zudem werden Teile des Erbes von 1968 heute weit kritischer gesehen, etwa die Auflösung von Traditionen und ein überbordender Individualismus. Auch die Achtundsechziger selbst haben viel an Glanz verloren. Ob Gerhard Schröder oder Moritz Leuenberger - klar wurde bis heute nicht, ob es ihnen bei ihrem langen Marsch durch die Institutionen um mehr ging als um die Eroberung der Macht um der reinen Macht willen. Es fehle dieser Generation ein «inneres Geländer» an Werten, urteilt der deutsche Journalist Jürgen Leinemann.
Rechtsrutsch der Mitteparteien. Als linker Konsenspolitiker, der gerne runde Tische einrichtet und am besten als Moderator divergierender Positionen funktioniert, passte Leuenberger in die Neunzigerjahre. Damals packte die so genannte «Koalition der Vernunft» aus FDP, CVP und SP die Verkehrs- und Europapolitik an, wobei Leuenberger eine massgebende Rolle spielte. Die erfolgreichen Verhandlungen mit der Europäischen Union über eine Transitgebühr, die Volksentscheide zur LSVA und zur Neat waren seine grössten Erfolge. Inzwischen formiert sich unter dem Druck der SVP wieder stärker der Bürgerblock. Es werden Entscheide durchgesetzt, nicht mit der Linken ausgehandelt. «Die Rechtsbürgerlichen suchen nicht mehr den Konsens», urteilt der frühere FDP-Präsident Franz Steinegger, «sie wollen die neoliberale Revolution.» Für einen lösungsorientierten Sozialdemokraten wie Leuenberger bleibt da wenig Raum.
Lieblingsfeind der SVP. Seit seiner Zeit im Zürcher Regierungsrat ist Leuenberger in den Fokus der SVP geraten. Die Rechtspartei respektiert zwar volksnahe Gewerkschafter, nicht aber kulturbeflissene Toscana-Linke. Leuenbergers Art scheint die SVP fast physisch zu reizen. Schon vor vier Jahren höhnte Blocher, letztlich gehe es dem Sozialdemokraten vor allem um eine Botschaft: «Seht her, welch feiner, mitleidender, moralisch hoch stehender Mensch ich bin.» Diese Anfeindungen, immer wieder vorgebracht, zeigen inzwischen ihre zersetzende Wirkung. Dabei wird die SVP nicht nur von politischen Motiven getrieben. Mitspielen dürften auch Rachegelüste: Im Regierungsratswahlkampf vom Frühling 1991 setzte sich Leuenberger gegen Ueli Maurer durch, bei den Nationalratswahlen im darauf folgenden Herbst machte er mehr Stimmen als sein einstiger Studienkollege Blocher.
Der Abweichler mimt den GenossenDer Abwärtstrend für Leuenberger ist massiv. Gibt es für ihn überhaupt noch Hoffnung, neu durchzustarten? Immerhin scheint er es zu probieren. Seit ein paar Monaten versucht er immer stärker jene Lücke zu besetzen, die ihm seit zwei Jahren eigentlich weit offen steht, seit dem Rechtsrutsch des Bundesrates. Plötzlich mimt Leuenberger den kämpferischen Traditionssozi, der in der sparwütigen Exekutive als Einziger den Staat verteidigt und auf sozialen Ausgleich pocht - ausgerechnet er, der früher vom linken Parteiflügel als Blairist beschimpft wurde. «Wir müssen unseren Weg auch gegen Widerstände gehen», sagte er am vorvergangenen Wochenende am SP-Parteitag vor begeisterten Genossen. Dank seinem ewigen Widersacher Blocher gibt ihm zumindest die eigene Partei so viel Wärme und Zuneigung wie nie zuvor.
Theoretisch könnte auch das Präsidialjahr Leuenberger zu einer Imagepolitur verhelfen. Zumindest wird er mit seinem grössten Talent wuchern können: Mit klugen Ansprachen und, wenn es sein muss, einfühlsamen Trauerreden. Sogar Pfarrer und Theologen waren beeindruckt, wie gekonnt er im Herbst 2001 die nationale Gefühlslage nach dem Terroranschlag in New York, dem Attentat auf das Zuger Parlamentsgebäude und dem Crossair-Absturz bei Bassersdorf zu verbalisieren wusste. «Und ich frage mich: Nimmt das nie ein Ende? Wann hört das auf?», las er den Eidgenossen die Betroffenheit von den Lippen.
Ein echtes Comeback wird er trotzdem kaum schaffen. Zum einen drohen seine verschiedenen Rollen miteinander zu kollidieren. Er kann nicht gleichzeitig überparteilicher Bundespräsident sein und als roter Krieger durchs Land ziehen. Ebenso wenig kann er sich öffentlich über bundesrätliche Entscheide lustig machen und danach wieder moralisch zu mehr Kollegialität mahnen. Zum anderen - und das ist entscheidender - schadet ihm schlicht und einfach seine lange Amtszeit. Jedem Bundesrat widerfährt es nach ein paar Jahren, dass sich sein Bild in der Öffentlichkeit verändert. Meist nach dem gleichen brutalen Gesetz: Was einst als eine sympathische Eigenart galt, wirkt plötzlich abgenutzt. Was einmal frisch rüber kam, beginnt zu nerven.
Der GewöhnungseffektBei Leuenberger schlägt das voll durch: Sein - angeblich - distanziertes Verhältnis zur Macht wird als Weigerung interpretiert, Verantwortung zu übernehmen. Seine in jede Rede eingestreuten Scherze bekommen den Beigeschmack von Klamauk. Seine Ironie wird als fehlende Ernsthaftigkeit ausgelegt. Gewiss hat sich der 59-Jährige auch selbst verändert, ist wohl bitterer und zynischer geworden, doch in erster Linie ist es eine Frage der Wirkung. «Es gibt einen Gewöhnungseffekt», sagt Andreas Ladner. «Wenn alle lachen, macht er ein mürrisches Gesicht. Das hat man nun gesehen.» Nicht einfacher macht die Sache, dass Leuenberger zu den Transporteuren von Images ein verkrampftes Verhältnis hat - den Medien. Sein früher virtuoses Spiel zwischen Zurücknahme und Zurschaustellung ist Misstrauen gewichen. Auch hier steht er in nichts Schröder nach, der sich nach seiner Wahlniederlage diesen Herbst aggressiv als Medienopfer aufführte.
Belastend hinzu kommt der Fluch des Amtsältesten. Immer intensiver werden die Medien in den kommenden Monatenüber mögliche Rücktrittsabsichten und-termine spekulieren. Jede ungünstige Meldung aus irgendeinem Bereich seines Departementes kann sich zur Frage auswachsen, ob der Amtsträger nicht generell verbraucht sei. Stabilisierend wirkt das nicht.
«Ich sehe einen Jammerlappen»Aus dieser Lage wird sich Leuenberger nicht einmal mit Auftritten in allfälligen nationalen Notlagen im kommenden Präsidialjahr befreien können. Denn auch hier scheint sich eine neue Sicht durchgesetzt zu haben. Als Leuenberger im vergangenen Sommer als Umweltminister die Hochwassergebiete besuchte und in Stiefeln durch den Schlamm watete, schrieb ein TA-Leser: «Ich sehe einen Jammerlappen, einen Ritter von der traurigen Gestalt, Sinnbild einer verzagten Schweiz - kurz, das Zagen, Zaudern und Zögern in einer Person.» Was früher als Anteilnahme gelobt wurde, wird ihm nun als Schwäche vorgehalten.
Für eine positivere Wahrnehmung kann Leuenberger wohl nur noch eines tun - zurücktreten. Erst dann wird man würdigen, was jetzt niemand mehr sehen will. «Er war ein Bundesrat, der über den Tag hinausdachte», wird es heissen. Oder: «Der Landesregierung fehlt nun eine Persönlichkeit mit Affinitäten für die Kultur und das Geistesleben.» So wird man schreiben. Und damit auch Recht haben. (TA, 05.12.05)