Stephan Widrig warnt vor einem schleichenden Verlust der Standortattraktivität Zürichs. Der Chef des Flughafens beklagt, dass schon heute Engpässe aufträten – mit Blick auf die Nachfrage in zehn Jahren müsse die Politik jetzt Massnahmen beschliessen.
Interview: Andreas Schürer
Herr Widrig, Sie waren zuletzt für die kommerziellen Angebote des Flughafens Zürich verantwortlich. Spiegelt Ihre Beförderung zum CEO, dass Wachstum vor allem mit Shopping-Angeboten generiert werden soll?
Nein, ich verstehe mich als jemand, der das Flughafengeschäft in der ganzen Breite vertritt. Dass ich dabei auch Erfahrungen im Kommerz- und Auslandgeschäft sammeln konnte, hilft sicher. In modernen Flughäfen findet zunehmend eine Integration kommerzieller Angebote in die Verkehrsdrehscheibe statt. Sie tragen zur Erlebnisqualität bei und finanzieren die Infrastruktur mit.
Diese Entwicklung gab es auch an Bahnhöfen, der Zürcher Hauptbahnhof ist heute eine eigene Destination. Der Flughafen positioniert sich mit dem Dienstleistungszentrum «Circle» aber dezidiert im Premium-Bereich. Entfernt er sich so nicht vom Auftrag, Angebote für die breite Öffentlichkeit zu bieten?
Der Vergleich mit dem Hauptbahnhof ist treffend. Dort findet an der Europaallee auch eine Entwicklung vom klassischen Detailhandel zu einem breiteren Dienstleistungsspektrum statt. Im «Circle» hat sich etwa das Universitätsspital Zürich eingemietet – medizinische Dienstleistungen werden den Kunden an Pendlerdrehscheiben geboten, insbesondere ambulante Leistungen.
Aber der Flughafen Zürich positioniert sich mit dem «Circle», anders als der Hauptbahnhof, im Hochpreissegment.
Flughäfen sind heute die modernsten Plattformen überhaupt. Dies erlaubt, Hochwertigeres zu etablieren als an einem Bahnhof. Der «Circle» steht nicht für Luxus, sondern, wie wir es formulieren, für New Premium. Wir bieten eine Plattform für Angebote, die sich jeder leisten kann, die aber in einem hochwertigen Umfeld präsentiert werden.
Das spektakuläre «Circle»-Projekt verstellt den Blick auf das Kernproblem: Die Entwicklung des Flugbetriebs ist politisch blockiert. Ein Ausdruck davon: Kopenhagen hat Zürich bezüglich des Verkehrsaufkommens überholt. Ist das nicht ein Alarmsignal?
Es besteht kein Grund zur Panik. Aber die Gefahr einer schleichenden Verschlechterung der Standortattraktivität Zürichs ist da. Dessen muss man sich bewusst sein, da eine gute Luftverkehrsanbindung mitentscheidend ist für unseren Wohlstand.
Wegen Kapazitätsproblemen kommt es schon heute in Spitzenzeiten oft zu Verspätungen. Wie ernst ist die Lage?
Der Flughafen Zürich ist heute in Europa qualitativ führend. Das wollen wir auch in zehn Jahren sein. In den letzten Jahren ist die verfügbare Kapazität aber tatsächlich gesunken, unter anderem wegen Verschärfungen der Nachtflugregelung und der steigenden Sicherheitsauflagen. Heute haben wir in verschiedenen Tagesspitzen die Kapazitätsgrenze überschritten, und es ist eine grosse Herausforderung, die Pünktlichkeit zu halten. Mittel- bis langfristig braucht es Massnahmen, die über punktuelle Optimierungen hinausgehen.
Woran denken Sie konkret?
Die Diskussion über Flugbetriebs-Massnahmen muss politisch geführt werden. Grundsätzlich muss aus unserer Sicht in den Planungsinstrumenten von Bund und Kanton sichergestellt werden, dass wir den Betrieb abwickeln können, den die Volkswirtschaft nachfragt. Es geht es nicht um Wachstum per se, aber die Zahl der Flugbewegungen muss sich parallel zur Nachfrage entwickeln können. Wenn aber die Wirtschaft jährlich um 1 bis 2 Prozentpunkte wächst und die internationale Mobilität wie erwartet zunimmt, können wir die Nachfrage in 10 bis 15 Jahren mit dem heutigen Betrieb nicht mehr zufrieden stellend bedienen. Da es für Anpassungen Jahre braucht, muss sich die Politik heute mit diesen Fragen befassen.
Umstritten sind Verlängerungen der Pisten 28 und 32. Sie haben sich forscher geäussert als ihr Vorgänger Thomas Kern. Dieser knüpfte den Ausbau an die Umsetzung des blockierten Staatsvertrags mit Deutschland. Sie erachten Pistenverlängerungen auch ohne Staatsvertrag als sinnvoll. Warum?
Es gilt zu unterscheiden zwischen langfristiger Raumplanung über den Sachplan Infrastruktur der Luftfahrt, SIL, und konkreten Baugesuchen. Uns ist wichtig, dass die Verlängerungen der Pisten 28 und 32 im SIL und folglich auch im kantonalen Richtplan gesichert sind, um die Entwicklungsfähigkeit des Flughafens zu erhalten. Ein Antrag auf Umsetzung ist wegen der Unsicherheiten bezüglich des Staatsvertrags mit Deutschland derzeit aber kein Thema.
Was könnten die Pistenverlängerungen denn für Vorteile bringen?
Der Flughafen baut historisch auf dem Nordkonzept auf. Das Ostkonzept ist die einzige valable Alternative, weil nur in diesem auch zwei unabhängige Pisten für Starts und Landungen betrieben werden können.
Anflugregimes wie der gekrümmte Nordanflug sind auch mit dem Staatsvertrag verknüpft. Treiben Sie diese neuen Optionen trotz der Blockade voran, oder sind auch sie schubladisiert?
Wir wollen die technischen Möglichkeiten bestmöglich ausschöpfen. Deshalb sind wir mit Experten der Flugsicherung, der Swiss und des Bundes daran, den «curved north approach», wie wir ihn nennen, so weiterzuentwickeln, dass er als Standardverfahren möglich wird. Er wird aber kaum je eine ähnliche Kapazität aufbringen wie andere Anflugverfahren und entsprechend nur in Zeiten mit wenig Verkehrsaufkommen eingesetzt werden können.
Der Süden kann also nicht hoffen, dass die Südanflüge bald durch gekrümmte Nordanflüge ersetzt werden?
Es ist unrealistisch, dass die Südanflüge jemals gänzlich abgeschafft werden können. Der Staatsvertrag würde am Morgen Entlastung bringen. Nur in der ersten halben Stunde könnte der gekrümmte Nordanflug eingesetzt werden, danach wäre er aus betrieblichen Gründen nicht mehr möglich.
Und wie halten Sie es mit den Südstarts geradeaus? Die würden in den Spitzenzeiten, etwa am Mittag, eine spürbare Kapazitätsverbesserung bringen.
Im SIL sind sie für Verspätungsabbau bei Bise und bei Nebel vorgesehen. Langfristig ist wichtig, dass sie als Option über einen Eintrag im Sachplan raumplanerisch gesichert bleiben und grundsätzlich möglich sind, die konkrete Umsetzung kann aber nur mit Zustimmung des Kantons Zürich erfolgen und ist zurzeit kein Thema.
Würden Sie es begrüssen, wenn Bundesrätin Doris Leuthard diese Starts für Spitzenzeiten forcieren würde?
Wie gesagt: Der Bund muss über den Sachplan raumplanerisch vorsehen, dass die künftige Nachfrage abgewickelt werden kann. Die Massnahmen muss die Politik definieren.
Wegen der Kapazitätsprobleme hat die Geschäfts- und Kleinfliegerei in Zürich einen schweren Stand. Wann wird sie verdrängt?
Die Verdrängung findet bereits heute statt und wird weiter zunehmen. Auf den Sommerflugplan hin mussten wir weitere Slots für Geschäftsflieger streichen. Das sind schmerzhafte Schritte für die Business-Aviation.
Wäre es sinnvoll, dieses Segment nach Dübendorf zu verlagern?
Wir haben kein Interesse am Betrieb in Dübendorf, und die Verdrängung am Flughafen Zürich findet unabhängig davon statt, ob in Dübendorf geflogen wird oder nicht. Der Flughafen Zürich muss zudem auf jeden Fall flugbetrieblich vor Dübendorf Priorität haben. Aus meiner Sicht wäre es aber schon wichtig, dass Zürich ein Standort bleibt für die Geschäftsfliegerei.
In der Lärmdiskussion sind die Flüge in der Nacht zentral. Der Kanton drängt auf eine Halbierung der Flüge in der für Verspätungsabbau vorgesehenen Zeit zwischen 23 und 23 Uhr 30. Ist das eine realistische Forderung?
Weder die Airlines und schon gar nicht der Flughafen haben ein Interesse an Verspätungen. Zürich hat eine der strengsten Nachtflugregelungen in Europa. Darum ist es wichtig, die bestehende Regelung nicht zu verschärfen; sonst würde der Interkontinentalbetrieb gefährdet. Eine Halbierung der Zahl der Flüge zwischen 23 und 23 Uhr 30 dünkt mich etwas gar optimistisch. Flüge nach 23 Uhr sind oft eine Folge von Verspätungen am Tag, von Wettereinflüssen oder technischen Problemen. Nach 23 Uhr 30 reduzierte sich zudem die Zahl der Flüge deutlich, die früher bis 00 Uhr 30 stattfinden konnten.
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