von Andreas Schürer
Der Fall stellt eine Premiere dar: Zum ersten Mal muss sich in der Schweiz ein Fluglotse wegen eines Falls vor Gericht verantworten, bei dem niemand zu Schaden kam – wegen einer Beinahekollision. Diese ereignete sich am 15. März 2011 am Flughafen Zürich. Der von der Staatsanwaltschaft beschuldigte Fluglotse der Skyguide gab kurz nacheinander zwei Airbussen der Swiss die Starterlaubnis. Da sich deren Wege auf den Pisten 16 und 28 kreuzten, drohte eine gefährliche Annäherung oder sogar ein Zusammenstoss. Der Vorfall endete glimpflich, da eine Besatzung die andere Maschine bemerkte und den Startvorgang abrupt stoppte. Gleichwohl: Die Staatsanwaltschaft wirft dem heute 34-jährigen Lotsen eine fahrlässige Störung des öffentlichen Verkehrs vor. Als Strafmass verlangte sie eine bedingte Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu 100 Franken.
Staatsanwaltschaft behält sich Weiterzug vor
Das Bezirksgericht Bülach hat den Fluglotsen nun am Mittwoch freigesprochen und ihm eine Parteientschädigung von rund 109 000 Franken zugesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft kündigte an, sie analysiere das Urteil und entscheide dann, ob sie den Fall weiterziehe. In der Verhandlung vom April sah es die Staatsanwaltschaft als erwiesen an, dass der Lotse fahrlässig gehandelt hatte. So habe er die zwingende Norm missachtet, alle Bewegungen von Flugzeugen in seinem Zuständigkeitsbereich unablässig zu beobachten. Das Versäumnis hätte ohne weiteres eine Katastrophe zur Folge haben können, resümierte der Staatsanwalt.
Einzelrichter Michael Peterhans folgte dieser Argumentation nun am Mittwoch in der Urteilseröffnung nicht. In seiner Begründung rückte er die Frage in den Fokus, ob der Lotse durch sein Verhalten eine konkrete Gefahr für Leib und Leben verursacht, ob er Besatzungen und Passagiere gefährdet habe. Dabei zog er zwei entscheidende Schlüsse. Zum einen habe das tatsächliche Geschehen keine solche konkrete Gefahr gebracht. Eine der beiden Besatzungen habe die heikle Situation erkannt und gebremst. Dass der Startabbruch auf trockener Piste eine akute Gefährdung von Menschen bedeutet habe, sei nicht erstellt. Zum anderen betonte Peterhans, dass einzig die tatsächlichen Geschehnisse massgeblich seien. Die Argumentation der Staatsanwaltschaft, dass ein Zusammenstoss möglich gewesen wäre, wenn eine der Maschinen etwas früher gestartet wäre beziehungsweise wenn die eine Besatzung die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hätte, sei hypothetisch. Solch spekulative Varianten dürften aber nicht in Betracht fallen.
Vorwürfe an Skyguide
Entlastend führte Peterhans zugunsten des Skyguide-Lotsen zudem ins Feld, dass er stark beansprucht gewesen sei. So habe er auch bevorstehende Vermessungsflüge handhaben müssen, die aufgrund eines Bundesgerichtsurteils aus dem Jahr 2010 nicht mehr nach Betriebsschluss, sondern während des Regelbetriebs abgewickelt wurden. An die Adresse des Arbeitgebers des Lotsen meinte Peterhans aber kritisch, es erstaune, dass Skyguide diese Anpassung vorgenommen habe, ohne die Lotsen zu schulen und die Betriebsorganisation anzupassen. Der Einzelrichter warf der Flugsicherung Skyguide zudem vor, dass sie Arbeitsabläufe ungenügend schriftlich geregelt habe, insbesondere was die komplexe Handhabung der Flugbewegungen auf einem System mit sich kreuzenden Pisten betreffe. Dabei sagte er sogar, dass bei einem ähnlichen Vorfall in Zukunft die Frage zu stellen sei, ob die Entscheidungsträger der Skyguide, die Skyguide als Organisation oder das Bundesamt für Zivilluftfahrt als Aufsichtsbehörde eine strafrechtliche Verantwortung zu tragen hätten.
Zum Thema machte Peterhans auch, dass Skyguide-CEO Daniel Weder in einem Gastbeitrag in der NZZ das strafrechtliche Verfahren als unverständlich taxierte, weil so die Sicherheitskultur der Branche gefährdet werde. Diese so genannte «Just Culture» beruhe darauf, dass Mitarbeiter Fehler sofort und offen auf den Tisch legen könnten, ohne dass dies negative Konsequenzen habe, schrieb Weder in seinem Kommentar. Auf den ersten Blick sei dieses Argument nachvollziehbar, meinte Peterhans. Er hielt dann aber entschieden fest, dass die Strafverfolgungsbehörden aktiv werden müssten, um alle gleich zu behandeln. Der Richter sagte: «Das Verfahren ist deshalb keineswegs unverständlich, sondern Ausfluss des Legalitätsprinzips.»
«Minimale Sicherheitsmarge»
Trotz den Vorwürfen: Skyguide zeigte sich in einer ersten Stellungnahme erleichtert. Wer nach bestem Wissen und Gewissen arbeite, könne Beobachtungen und Zwischenfälle weiterhin melden, ohne disziplinarische oder juristische Konsequenzen zu fürchten. Skyguide-Sprecher Vladi Barrosa betonte zudem, dass einige Massnahmen aufgrund des Vorfalls ergriffen worden seien. Die vom Richter angesprochenen Vermessungsflüge würden nun wieder nach Betriebsschluss und bis spätestens 2 Uhr durchgeführt. Die Kritik des Richters, dass Abläufe mangelhaft vorgeschrieben seien, werde intern analysiert.
Grundsätzlich sei es aber am komplexen Flughafen Zürich mit seinem Mischverkehr nicht möglich, alles zu regulieren – sonst stehe der Flughafen still. Wichtiger wäre laut Barrosa, dass der Aspekt Sicherheit endlich höher gewichtet werde als die Lärmproblematik. Dies hebt auch die Fluglotsen-Gewerkschaft Aerocontrol hervor. Der Vorfall vom März 2011 sei hauptsächlich auf eine enorm hohe Komplexität bei sehr geringer Fehlertoleranz im täglichen Flugbetrieb zurückzuführen – die Sicherheitsmarge sei minimal. Verhindert werden könnten solche Ereignisse etwa mit weniger komplexen Verfahren wie dem Südstart geradeaus im Regelbetrieb.