Andreas Wittmer, Aviatik-Experte von der Universität St. Gallen, warnt vor Engpässen am Flughafen Zürich. Er schlägt vor, Dübendorf als vierte Piste zu betreiben und eine U-Bahn-Verbindung zu bauen.
Interview von Andreas Schürer
Herr Wittmer, Sie haben es gut. Sie können an der Universität St. Gallen über die Entwicklung des Luftverkehrs forschen und pointierte Thesen aufstellen. An die politische Front müssen andere.
Das ist richtig, und das soll auch so bleiben. Einmischen dürfen und sollen wir uns aber schon, richtig dosiert, nicht zu oft. Wir sind keine Politiker, sondern unabhängige Wissenschafter, die aus beobachtender Position der Politik und der Industrie Hinweise geben können. Die Distanz gibt uns eine gewisse Freiheit – wir können manchmal Dinge thematisieren, die andere nicht aussprechen können oder dürfen.
Woran denken Sie?
Zum Beispiel an die Diskussion, ob Zürich Kloten ein Bundesflughafen oder ein Zürcher Flughafen ist.
Wollen Sie, dass der Walliser und der Bündner Nationalrat entscheiden, über welche Dächer in Zürich geflogen wird?
Das ist eine regionale Perspektive, ich sehe das anders. Zürich ist heute die nationale Drehscheibe, der Flughafen ist zentral für die Anbindung der gesamten Schweiz. Nun stehen wir aber vor einem Dilemma. Die Luftfahrt wird einerseits weltweit hohe Wachstumsraten aufweisen. In der Schweiz und speziell in Zürich haben wir aber eine Infrastrukturstagnation. Da frage ich mich, ob Zürich ein bedeutender Hub bleiben kann. Oder ob Zürich zu einem sekundären Flughafen wird, der gewisse Anbindungen noch bieten kann, vor allem aber über Umsteigeflüge funktionieren wird. Letzteres ist nicht anzustreben. Wir wissen aus verschiedensten Studien, wie wichtig ein gutes Drehkreuz für die Volkswirtschaft ist. So gesehen ist Zürich ein Schweizer Hub, seine Entwicklung muss damit Sache der Schweizer Politik sein.
Aus Zürich werden Sie hören, dass dies demokratiepolitisch heikel sei.
Man könnte auch argumentieren, dass es nicht demokratisch ist, wenn Nicht-Zürcher kein Mitspracherecht bezüglich ihres Flughafens haben. Ebenfalls könnte man sich an die Zweitwohnungsinitiative erinnern, wo wir in der gesamten Schweiz gegen den Willen der Betroffenen entschieden haben.
Die Lärmproblematik blenden Sie in Ihrer Argumentation aber aus.
Die Lärmproblematik ist ein wichtiges Thema, dem Rechnung getragen werden muss. Ich denke aber, dass sich das Lärmproblem in den nächsten 10 bis 20 Jahren stark reduzieren wird. Zudem bietet der Zürcher Flughafen gerade für die regionale Bevölkerung auch Vorteile, zum Beispiel ein Einkaufszentrum, das sieben Tage pro Woche offen hat, oder eine sehr gute öffentliche Verkehrsanbindung. Es bestehen also positive und negative Effekte, die zu berücksichtigen sind. Es würde mich allerdings interessieren, ob das Schweizervolk anders entscheiden würde als die Zürcher. Wenn nicht, wäre dies zu akzeptieren – mit allen Konsequenzen. Es könnte aber auch sein, dass die Schweizer die Qualität der interkontinentalen Anbindung höher gewichten würden als die regionale Lärmproblematik. Diese wird ja auch oft übertrieben. Auf der Türschwelle in Zürich stehen auch St. Galler und Thurgauer, obwohl von Lärm in diesen Regionen nun wirklich nur beschränkt die Rede sein kann. Man vergleiche einmal den Lärmpegel der Flugzeuge mit dem übrigen Umgebungslärm, dann relativiert sich vieles.
Der Bundesrat will seine Kompetenzen in Bezug auf die Landesflughäfen tatsächlich ausbauen. Dabei setzt er auf Vorgaben im Sachplan. Dieses Vorgehen erscheint aber als ziemlich zaghaft.
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Bundesrat kann das System nicht von einem Tag auf den anderen ändern.
Gegner einer Kompetenzverschiebung werfen ein, dass sich ein Flughafen nicht gegen die Bevölkerung betreiben lasse.
Gegen welche Bevölkerung? In Singapur entscheidet auch nicht das Changi-Village, wenn es um den dortigen Changi-Flughafen geht. Ich sehe die Schweiz als Stadtstaat. Hätten wir uns in der Vergangenheit besser organisiert, würde heute die Swissmetro die grossen Städte innerhalb von 20 Minuten verbinden. Wenn wir die Schweiz anschauen würden wie ein New York mit einem wunderbaren Park in der Mitte und einigen Bergen, wäre die Perspektive völlig anders. Wer sind wir denn? Ein sehr kleines, stark vernetztes Land, das gewisse Infrastrukturen lokal organisiert hat, allen voran den Flughafen Zürich, der Direktverbindung zu den weltweiten Zentren sicherstellt. Ich denke aus dieser Stadtstaat-Perspektive. Da ist ein einzelner Kanton bedeutend weniger wichtig, wenn es um die globale Anbindung geht.
Wir müssen uns mit Singapur messen: Das deckt sich mit der Forderung des Avenir-Suisse-Direktors Peter Grünenfelder, der sagte, Zürich müsste sich mit weltweiten Zentren vergleichen (NZZ 25. 4. 16). Es fehle aber der Hunger. Ist das auch Ihre Diagnose?
Wir sind kompliziert, konservativ und haben Schwierigkeiten, uns verändernden globalen Rahmenbedingungen anzupassen oder sie mitzugestalten. Nach Jahren des Wohlstands ist das aber wohl ein natürlicher Prozess. Die Wissenschaft kann punktuell aufrütteln. Die direkte Demokratie ist zudem zwar ein sehr gutes Modell, hat aber den Nachteil der Langsamkeit.
Sie betonen die Bedeutung eines starken Hubs. Umsteigen wird aber effizienter. Kritiker einer Wachstumsstrategie sagen, dass sich Zürich auch mit einem kleinen City-Airport zufriedengeben könne.
Es stimmt, dass das Umsteigen effizienter geworden ist, zumindest auf manchen Flughäfen. Trotzdem bedeutet es einen Zeitverlust, es gibt ein Bedürfnis nach Direktverbindungen. Ohne genügend Direktverbindungen hätten wir keinen Hub mehr und würden die volkswirtschaftlichen Vorteile verlieren, die ein solcher bringt, ich denke an Arbeitsplätze und Umsätze. Ebenfalls hätten wir keinen Hub-Carrier mehr. Die Swiss könnte dann in Zürich ihr Netzwerkmodell nicht mehr erfolgreich weiterverfolgen, sie verlöre ihr Geschäftsmodell. Die entscheidende Frage in dieser Diskussion lautet folglich, ob wir direkte Interkontinentalflüge und damit einen Hub-Carrier brauchen oder nicht.
Ihre Antwort dürfte mit «Ja» ausfallen – warum?
Für die Schweiz ist das heutige Modell mit dem Hub in Zürich und der Swiss als Hub-Carrier gut. Sie bietet ein für die Schweizer Bedürfnisse geeignetes Netzwerk von Destinationen an. Der Hub-Carrier entscheidet auf Basis der Nachfrage, an welche globalen Zentren die Schweiz direkt angebunden ist. Letztlich befindet heute also die Lufthansa oder zugespitzt formuliert Deutschland über die Anbindung der Schweiz. Das ist aber nicht problematisch. Die Lufthansa und die Swiss funktionieren ähnlich, Deutschland und die Schweiz haben ähnliche Werte, die Swiss agiert mit starkem Fokus auf den Schweizer Markt. Kritisch würde es dann, wenn wir abhängig würden von einer Airline, hinter der zum Beispiel ein autokratisches Regime stünde, das eine ganz andere Agenda verfolgt und zu diesem Zweck die eigene Airline stark subventioniert, wie das zum Beispiel bei Etihad oder Qatar Airways der Fall ist.
Der Flughafen Zürich kämpft mit Engpässen. Wird sich diese Problematik entschärfen, weil dank Technologiesprüngen Strasse und Schiene neue Möglichkeiten bieten werden – und vielleicht Angebote wie die ausgebaute Kurz- und Mittelstrecke der Swiss konkurrenzieren?
Bis in die Jahre 2040 bis 2050 werden wir wohl eine andere Welt antreffen als heute. Für die Aviatik sind vor allem High-Speed-Bahnverbindungen ein Thema. Wenn Schnellbahnen ausgebaut werden, so dass man in drei bis vier Stunden zum Beispiel von Zürich nach Hamburg kommt, wird es eine Verschiebung geben. Die Feinverteilung in einem Land könnte man am Boden bedeutend effizienter gestalten. Das heisst aber nicht, dass die Swiss eine Fehlinvestition getätigt hat. Die neuen Flugzeuge wird sie gut brauchen können, denn Investitionen in Infrastrukturen wie Schnellbahnen dauern sehr lange. Und zudem wächst der Luftverkehr auch später interkontinental noch weiter.
Was sind denn die Prognosen für die nächsten 5 bis 20 Jahre?
Bezüglich Passagierwachstum rechnen wir bis 2030 weltweit mit einer Verdoppelung. Getrieben wird das Wachstum vor allem aus Asien, aber auch aus Südamerika und Afrika. Aus Schweizer Sicht ist die Frage, wie viel dieses Wachstums über Zürich laufen wird – oder eben nicht. Entscheidend für die Antwort sind die Kapazitäten, die der Flughafen anbieten kann. Nicht so stark zulegen wird die Zahl der Flugbewegungen, weil grössere Flugzeuge mehr Kapazität bieten; ich gehe aber auch von Steigerungsraten aus. Das Wachstum wird aber mit neuen Flugzeugen abgewickelt, die leiser sind und weniger Kerosin verbrauchen als heutige. Noch weiter in der Zukunft, 2040 bis 2050, werden Flugzeuge wohl andere, deltaähnliche Formen haben und möglicherweise mit Elektromotoren betrieben werden. Dann wird man nicht mehr über Motorenlärm und Emissionen reden.
Das tönt schön, ist aber Zukunftsmusik. In der Gegenwart wird gestritten, derweil die Schweizer Flughäfen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Wie ernst ist die Lage für den Flughafen Zürich?
Heute und morgen passiert nicht viel, mittelfristig schon. Wir sind konfrontiert mit einer begrenzten Infrastruktur, die wir kaum verändern können und die kaum Wachstum zulässt. Die derzeitige Problematik mit den Verspätungen resultiert denn auch daraus, dass man viele Flüge in wenig Zeit drängen muss. Bei zunehmendem Verkehr wird sich dieses Problem verschärfen.
Welche Möglichkeiten stehen für Sie im Vordergrund, um Wachstum in Zürich zu ermöglichen?
Da ist sicher der Flugplatz Dübendorf ein Thema – auch so eine heilige Kuh, die keiner antasten will. Die Pläne des Bundes, dort eine zivilaviatische Nutzung zu ermöglichen, sind interessant. Letztlich müsste Dübendorf aber als vierte Piste des Flughafens Zürich betrieben werden, im Idealfall würden die beiden Infrastrukturen mit einer U-Bahn verbunden. Pragmatisch formuliert, könnten Business Aviation, Kleinfliegerei, Holiday Charter und Fracht von Zürich Kloten nach Dübendorf verlagert werden. Das gäbe Platz in Zürich, im Roll- und Standplatzbereich, allenfalls auch für ein neues Terminal. Aber auch die Pistenkapazität müsste erhöht werden können, was abhängig ist von der Kapazität im Luftraum. Da gibt es Grenzen, die diese Idee limitieren.
Dieses Jahr noch soll der zweite Teil des Sachplans zum Flughafen Zürich vorgelegt werden. Welche Massnahmen muss der Bundesrat in diesen Sachplan schreiben, der definiert, welche Betriebsvarianten mittelfristig möglich sind?
Das ist eine schwierige operative Frage. Der Bundesrat muss versuchen, die Kapazität zu erhöhen, so dass eine nachfragegerechte Entwicklung möglich ist. Er muss sich bewusst sein: Wenn wir die Infrastrukturen im heutigen Zustand halten wollen, wird die Kapazität stagnieren. Man müsste sich dann politisch überlegen, welche Einwohnerzahl in der Schweiz als Obergrenze zu definieren ist. Wir können nicht Zuwanderung haben, ohne die Infrastrukturen auszubauen. Diese Politik festzulegen, ist Bundessache – die Verantwortung muss der Bundesrat wahrnehmen.
Andreas Wittmer
Andreas Wittmer ist Geschäftsführer des 2005 gegründeten Center for Aviation Competence an der Universität St. Gallen. Er forscht mit Fokus auf die Luftfahrt in den Bereichen Dienstleistungsmanagement, Marketing und Kundenverhalten und lehrt sowohl an der Universität St. Gallen als auch an verschiedenen internationalen Universitäten und Fachhochschulen. Zudem ist Wittmer Vizepräsident des Swiss Aerospace Cluster und nebenamtlicher Untersuchungsleiter beim Büro für Flugunfalluntersuchungen der Schweiz. Er wohnt in Mörschwil, ist verheiratet und Vater dreier Kinder.
siehe auch:
Medienmitteilung VFSN: NZZ-Artikel „Die Lärmproblematik wird oft übertrieben\""