Ulrich Schmid, Berlin
Deutschland bekundet derzeit Mühe, bilaterale Verträge mit der Schweiz auch rechtskräftig zu machen. Nur wenige Tage nach dem Scheitern des Steuerabkommens in der deutschen Länderkammer, dem Bundesrat, kündigte Verkehrsminister Ramsauer am Montag in Berlin an, er habe den Ratifikationsprozess des Fluglärm-Staatsvertrags vorläufig gestoppt, weil es wichtige Fragen zu klären gebe. Noch vor wenigen Wochen hatte Ramsauer Berichte, nach denen der Ratifikationsprozess nicht mehr vorankomme, noch energisch dementiert und sich voll und ganz zum Staatsvertrag bekannt.
Flugbewegungen im Zentrum
Ein sichtlich enervierter Ramsauer sagte am Montag nach Gesprächen mit dem grünen baden-württembergischen Verkehrsminister Hermann und etlichen Politikern aus südbadischen Landkreisen, der Staatsvertrag, den er am 4. September mit Bundesrätin Leuthard unterzeichnete, weise noch zahlreiche offene Fragen auf. Es handle sich dabei primär um technisch komplexe Details. Diese Probleme müssten nun rasch geklärt werden, entweder in Form eines Zusatzprotokolls oder aber durch Änderungen einzelner Vertragspunkte selber. Ziel sei ein rechtsverbindliches und auch völkerrechtlich hieb- und stichfestes Abkommen.
Neu verhandelt werden soll offenbar praktisch alles, was bisher vereinbart wurde. Wie der Waldshuter Landrat Bollacher, ein Christlichdemokrat, sagte, geht es um die Bewegungszahlen, um die Routen, die Flughöhen und um die Grenzabstände. Laut Bollacher weist der Vertrag derart viele Interpretationsmöglichkeiten und Unklarheiten auf, dass er für Süddeutschland schlichtweg nicht annehmbar sei. Bollacher machte klar, dass es der deutschen Seite ganz zentral um die Flugbewegungen geht und dass man mit der Festlegung von Sperrzeiten in erster Linie eine Reduktion dieser Bewegungen erreichen wollte – auf konkret rund 82\'000 bis 85\'000 Flüge. Hermann bestätigte diese Sicht, indem er sagte, die Schweizer Regierung habe das badische Misstrauen durch die Nennung der Zahl von 110\'000 Flügen in ihrem Vernehmlassungsbericht zuhanden des Parlaments bestätigt. Da zentrale Fragen nicht gelöst seien, sei der Staatsvertrag auch «nicht ratifizierbar».
Hoffen auf Berner Goodwill
Der «Sack ist also wieder offen», wie Bollacher nüchtern konstatierte. Der Ball liegt in der Schweizer Spielhälfte, und Bern hat zu überlegen, ob man auf die Offerte Ramsauers eingehen will. Offensichtlich herrscht auch in diesem Fall – ganz ähnlich wie auf sozialdemokratischer Seite, was das Steuerabkommen angeht – die Auffassung, mühsam ausgehandelte Verträge könnten bei Bedarf ohne weiteres ergänzt werden. Ramsauer jedenfalls geht davon aus, dass sein Anliegen in Bern auf offene Ohren trifft. Man habe schliesslich beidseits des Rheins Interesse an einer guten und dauerhaften Lösung des Konflikts, ein Scheitern wäre ein Schaden für beide Länder. Bollacher gab der Hoffnung Ausdruck, die Schweiz werde das Ersuchen nicht einfach auf «rechtsförmliche» Art zurückweisen. Immerhin ist in diesem Fall bei den Zuständigen die Erkenntnis feststellbar, dass Neuverhandlungen nicht einfach unilateral verfügt werden können, sondern dass man den Verhandlungspartner zunächst einmal fragen könnte, ob er zu einem solchen Schritt bereit wäre.
Für Ramsauer ist die Sistierung des Ratifikationsprozesses höchst unangenehm, seine Gegner werden sie als Schlappe bezeichnen. Der Verkehrsminister ist von den Baden-Württembergern zurückgepfiffen worden, und er muss über die Bücher. Ganz offensichtlich droht dem Staatsvertrag im deutschen Bundesrat, der Länderkammer, das Schicksal des Steuerabkommens. Hochgradig ärgerlich für Ramsauer ist auch die Tatsache, dass sich die CDU Baden-Württembergs auf die Seite der Fluglärmkritiker geschlagen hat. Die Christlichdemokraten sind seit dem Sieg der Grünen bei den letzten Landtagswahlen in einen Depressions-Stupor gefallen und suchen hektisch nach Themen, mit denen sie Bürgernähe demonstrieren können. Dass sie nun ausgerechnet beim Thema Fluglärm fündig geworden sind und damit die Pläne ihres Unions-Kollegen Ramsauer durchkreuzen, ist eine der vielen innerdeutschen Paradoxien des Streits.
Messe mit zwei Ellen?
Tausende von Menschen haben am Wochenende gegen den Fluglärm in Frankfurt, München und Berlin demonstriert. Die Demonstranten beobachten die Vorgänge um den Flughafen Zürich sehr genau, und aus ihren Reihen ist immer häufiger der Vorwurf zu hören, Ramsauer komme den Baden-Württembergern auffallend weit entgegen, zeige aber nur wenig Verständnis für ihre Anliegen, die zwar keinen internationalen Charakter hätten, aber dennoch brennend seien. Auch aus Schweizer Sicht wird es von Interesse sein festzustellen, welche Argumente in der Fluglärmdiskussion in Deutschland ernst genommen und welche beiseite gewischt werden. In Berlin jedenfalls ist es auffallend, wie gerne der Regierende Bürgermeister Wowereit, ein Sozialdemokrat, erklärt, eine Grossstadt brauche einen Flughafen, und deshalb müssten seine Bewohner ein Mindestmass an Fluglärm auch ertragen.
Im Anflug abgeschossen
Markus Spillmann
Nicht, dass es völlig überraschend geschieht. Einem Affront nahe kommt es dennoch. Zwischen Deutschland und der Schweiz haben Staatsverträge im parlamentarischen Ratifikationsprozess derzeit keine grosse Durchsetzungskraft mehr. Einzig ein Wochenende trennt das Nein zum Steuerabkommen im Bundesrat, der deutschen Länderkammer, und der von Verkehrsminister Ramsauer am Montag verkündeten «Sistierung» des Ratifikationsprozesses zum Luftverkehrsabkommen.
Es fliessen auch Krokodilsträne
Auch dessen vorläufiges Scheitern war wie schon beim Steuerdossier zu befürchten. Berlin gewichtet derzeit das Innenpolitische höher als die Pflege gutnachbarschaftlicher Beziehungen. Diese hat im Fall der Schweiz für Deutschland ohnehin nie jenen Stellenwert besessen, die sie in der Wahrnehmung vieler Eidgenossen eigentlich haben müsste. Trotzdem wirkt derzeitig der bilaterale Umgang als leichtfertig, ja eine Spur zu arrogant – und die harsche Ablehnung und der rüde Ton im Umgang mit der Schweiz durch einzelne deutsche Politiker sind grotesk überzogen. Denn immerhin hat die Eidgenossenschaft mehrfach bewiesen, dass sie bereit ist, Fehler der Vergangenheit – auch selbst begangene – mit redlicher Verhandlungsführung zu korrigieren und Streitpunkte mit dem Nachbarn nördlich des Rheins gütlich beizulegen.
Regierung und Parlament in Deutschland sind vorderhand aber weder willens noch politisch in der Lage, dies sachlich zu honorieren. Zu sehr ist schon Wahlkampf, zu sehr der Leistungsausweis der schwarz-gelben Koalition unter Angela Merkel durch den politischen Gegner angreifbar. Die Popularität der Kanzlerin täuscht falsche Gewissheiten vor: Nicht sie wird im kommenden September gewählt, sondern ein Parlament wird neu bestellt. Siegesgewiss kann die CDU/CSU dabei nicht sein, allein schon wegen ihres arg zerzausten liberalen Koalitionspartners. Und darum gilt es, gegenüber einer durchaus starken Opposition Terrain nicht nur zu besetzen, sondern für diese im Wahlkampf auch möglichst unattraktiv zu gestalten.
Es sind daher mitunter Krokodilstränen, die ob des von der SPD verursachten Scheiterns des Steuerabkommens mit der Schweiz auf Regierungsseite vergossen werden. So tapfer und redlich der Finanzminister für das Abkommen kämpft – es dient durchaus auch der CDU, sich im Kampf gegen deutsche Steuersünder im Wahljahr 2013 nicht dem Vorwurf des billigen Jakob in der eigenen Wählerschaft auszusetzen. Mag sich die SPD an ihrem Sieg noch freuen, das Thema entgleitet ihr absehbar, weil kein Abkommen mit der Schweiz den Status quo zementiert, also die zunehmend ermüdende Brandmarkung deutscher Steuersünder und die an Hehlerei reichende Bewirtschaftung inkriminierender Bankdaten durch deutsche Finanzämter.
Ein Zyniker, der vermutet, damit liesse sich auch im Regierungslager punkten? Die CDU-geführte Koalition entlastet sich zumindest vom Risiko, beweisen zu müssen, sie habe nicht zu viel versprochen bei der Repatriierung deutscher Steuergelder aus der Schweiz. Denn sie weiss, die Geister des Gerechtigkeitspathos beschwört auch sie. Der berechtigte Degoutant gegenüber Exzessen Einzelner paart sich gefährlich mit Neid und Missgunst gegenüber all jenen, die es weitergebracht haben. Wehe dem, der sich dabei verdächtig macht. In einem solchen Staats- und Gesellschaftsverständnis geniesst der Schweizer Umgang mit der Privatsphäre des Einzelnen in Deutschland nur wenig Fürsprache.
Stillstand ist trotzdem keine Lösung
Beim Luftverkehr geht es der Regierung in Berlin viel profaner um die Sicherung der Gunst auch eigener Wählerschichten im süddeutschen Raum. Dass deren Lärmbelastung durch den Zürcher Flughafen anfliegende Maschinen im Vergleich zu den alpenquerenden Tonnagen aus Deutschland und den kilometerlangen Staus während der Hauptreisezeit an Ostern und im Sommer am Gotthard immer relativ ist, ist dem Zornbürger im Südschwarzwald schon länger egal. Eher symbolisch wird auf eine Begrenzung der Zahl der Flüge gepocht – im Wissen darum, dass letztlich nicht die Flugbewegungen, sondern der effektive Lärm das entscheidende Kriterium darstellen müsste. Dieses aber hat längst als sachliche Verhandlungsbasis ausgedient.
Stillstand aber kann für Zürich nicht die Lösung sein. Es ist absehbar, dass künftig sicher nicht mehr, sondern tendenziell weniger Flüge über den Norden abgewickelt werden können. Entsprechend bleibt es unabdingbar, die von der Schweiz selbst bestimmbaren Massnahmen zur Kapazitätsoptimierung konsequent voranzutreiben.
Deutschland ist für die Schweiz wichtig, aber trotz allem nicht der Nabel der Welt. Dort gefällte Entscheidungen sind zu akzeptieren. Der Umkehrschluss aber, die Schweiz löse die bilateralen Probleme mit eilfertiger Anpassung und immer neuen Zugeständnissen, ist und bleibt defaitistisch. Nicht die Schweiz hat Nein gesagt, sondern Berlin.