Andreas Schürer / Felix Schindler
Die Voraussetzungen für den Zürcher Regierungsrat waren nicht eben günstig: Egal, wie seine Stellungnahme zum Staatsvertrag mit Deutschland ausfällt, er wird die unterschiedlichen Regionen nicht hinter sich vereinen können – zu stark divergieren deren Interessen.
So liess er sich mit der Stellungnahme Zeit bis heute Dienstag, während die Nachbarkantone ihre pointierten Forderungen bereits präsentiert hatten. Nun hat die Zürcher Regierung zähneknirschend bekannt gegeben, dass sie dem Staatsvertrag «mit grosser Zurückhaltung» zustimme. Der Regierungsrat bezeichnet es als störend, dass die Anzahl flugfreier Stunden, welche die Schweiz gegenüber Deutschland zugestehen muss, so hoch ausfällt. Neu sind Anflüge über Südbaden nur noch von 6 Uhr 30 bis 18 Uhr (werktags) und von 9 bis 18 Uhr (an Wochenenden und deutschen Feiertagen) möglich. Die heutigen Sperrzeiten gelten von 7 bis 21 Uhr beziehungsweise von 9 bis 20 Uhr.
Sorgen um die Folgen einer Ablehnung
Trotz dieser Nachteile befürwortet der Zürcher Regierungsrat den Staatsvertrag. Nur damit könne Rechts- und Planungssicherheit hergestellt werden. Zudem würde eine Ablehnung des Abkommens eine Lösung in weite Ferne rücken lassen. Als Vorteil wertet es der Regierungsrat, dass der Vertrag bis 2030 unkündbar ist und Deutschland der Schweiz für dessen Umsetzung bis 2020 Zeit lässt. Der von Bundesrätin Doris Leuthard unterzeichnete Vertrag stelle ein maximales Entgegenkommen gegenüber Deutschland dar. Weitere Konzessionen lehnt der Zürcher Regierungsrat klar ab.
Klare Worte richtet die Zürcher Regierung in ihrer Stellungnahme an die Nachbarkantone. Die Bevölkerung des Kantons Zürich trage die negativen Auswirkungen des nationalen Flughafens praktisch alleine. Während gemäss dem Zürcher Fluglärm-Index (ZFI) 95,3 Prozent der vom Fluglärm stark belästigten Personen im Kanton Zürich lebten, seien es im Kanton Aargau 4,2 Prozent, im Kanton Thurgau 0,2 Prozent und im Kanton Schaffhausen 0,1 Prozent. Daran werde sich auch küftig nicht viel ändern. Die Forderung nach «Opfersymmetrie» der Nachbarkantone entbehre daher jeder Grundlage. Der Zürcher Volkswirtschaftsdirektor Ernst Stocker (svp.) gab sich am Rande der Medienkonferenz bemüht, mögliche Konflikte mit den Nachbarkantonen herunterzuspielen. Er sagte: «Ich kann die vehementen Forderungen nicht nachvollziehen - aber es versucht halt jeder, seine Haut so teuer zu verkaufen wie möglich.»
Vage Aussagen zum Betrieb
Stocker selber zog es vor, seine Haut noch zu schützen, indem er sich nur vage zu den heissen Eisen äusserte - zu den umstrittenen Pistenverlängerungen und zur betrieblichen Umsetzung des Staatsvertrags. Das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) hatte kürzlich sechs Umsetzungsoptionen präsentiert, die allesamt mehr oder weniger ausgeprägt das Ostkonzept forcieren, das Landungen aus Osten und Starts nach Norden vorsieht.
Im Vergleich der Kriterien «Anzahl Lärmbetroffene», «Kapazität» und «Komplexität» schneide dieses Konzept am besten ab, bilanzierte das Bazl. Stocker meinte auf Nachfrage dazu: «Es ist für mich klar, dass ein ZFI-gerechtes Konzept zu favorisieren ist, das möglichst wenig Menschen belastet. Ohne eine gewisse Verteilung wird es aber nicht gehen.» Wie dieser Spagat umsetzbar sein soll, liess Stocker offen; die Regierung habe zu betrieblichen Fragen noch keinen Beschluss gefasst. Auch zum Thema Pistenverlängerungen äusserte sich Stocker nicht. Das letzte Wort würden ohnehin der Kantonsrat und dann das Volk haben.
Gekröpfter Nordanflug gefordert
Eine konkrete Aussage liess sich Stocker dann doch noch entlocken - jene nach einer Einführung des gekröpften Nordanflugs. Es sei viel sinnvoller, die rund 15 Interkontinalflüge frühmorgens über Norden hereinzuholen - «statt den dicht besiedelten Süden aufzuwecken». Stocker sagte: «Die Einführung des gekröpften Nordanflugs ist eine zentrale Forderung der Zürcher Regierung.»
SP, GP und GLP gegen Pistenausbau
Nur kurz nach der Medienorientierung flatterten bereits die Stellungnahmen der kantonalen SP, GP, GLP und CVP herein - als hätten sie im Warteraum auf das Signal zum Landemanöver gewartet. Die SP kritisiert, dass der Regierungsrat am offiziellen Wachstumskurs für den Flughafen festhalte. Solange kein Umdenken stattfinde, bleibe die Bevölkerung im Kanton Zürich im Fluglärmstreit isoliert. Vor der Abstimmung über den Staatsvertrag sei aufzuzeigen, wie ab 2020 ohne Pistenausbauten geflogen werden könne. Für die GP ist störend, dass sich der Regierungsrat um eine Stellungnahme zu Pistenverlängerungen drücke. Dabei sei offensichtlich, dass der Vertrag auf diese Verlängerungen und damit verbunden auf einen Kapazitätsausbau zugeschnitten sei. Darum lehne die GP den Vertrag ab.
Nicht ganz so weit geht die GLP. Für sie ist der Staatsvertrag ein schlechter Kompromiss. Eine Ablehnung würde allerdings zu noch schlechteren Lösungen führen, schreibt die Partei. Pistenverlängerungen seien aber abzulehnen. Sie dienten nur dem Kapazitätsausbau, belasteten aber die Bevölkerung mit massiv mehr Fluglärm und gefährdeten die Lebensqualität im Kanton Zürich. Für die CVP hat der Staatsvertrag eine Chance verdient. Die Nachbarkantone, die nur in geringem Masse von Fluglärm betroffen seien, müssten ihn aber mittragen. Weiterhin müsse der gekröpfte Nordanflug eine Option sein. Sei die innerschweizerische Verteilung fair, sei die CVP bereit, einen Pistenausbau zu prüfen.
Selbstbewusste Südschneiser
Die Bürgerorganisationen reagieren unterschiedlich. Der Dachverband Fluglärmschutz ist enttäuscht, dass die Regierung bereit sei, «Lasten für die Bevölkerung von unzumutbarem Ausmass» in Kauf zu nehmen. Die Wachstumseuphorien der Flughafen Zürich AG hätten offensichtlich mehr Gewicht als das Ruhebedürfnis der lärmgeplagten Bevölkerung. Der Dachverband werde eine einseitige Belastung der Ostregion ebenso bekämpfen wie Pistenverlängerungen. Ins gleiche Horn bläst der Verein Bürgerprotest Fluglärm Ost (BFO) - nur eine Nuance aggressiver. Sie seien davon ausgegangen, dass der Wädenswiler Stocker «als Vertreter der der Südschneise» und «aktueller Verwaltungsrat beim Flughafen» den für die Schweizer Bevölkerung katastrophalen Staatsvertrag annehmen werde. Stocker sei ein netter Mensch, gibt sich das BFO grossherzig, nicht ohne hinzufügen, dass dies allein für das Flughafen-Dossier nicht ausreiche.
Einen anderen Akzent setzt die Zürcher Handelskammer. Sie begrüsst den Entscheid des Regierungsrats und argumentiert: «Ist man weiterhin daran interessiert, als Standort für internationale Firmen in Betracht gezogen zu werden, sind Schritte zu unterlassen, welche eine derart wichtige Infrastruktur wie den Flughafen in seiner Funktionsfähigkeit massgeblich beschränken.»
Selbstbewusst, um nicht zu sagen vollmundig, äussert sich der Verein Flugschneise Süd-Nein (VFSN), der am Dienstag in aller Frühe den neunten Jahrestag seit Einführung der Südanflüge beging. Er stellt nichts weniger in Aussicht, als dass er das Ei des Kolumbus gefunden habe: «Da aus Bundesbern keine Ideen zu erwarten sind, wie die betroffene Bevölkerung entlastet werden kann, wird der VFSN in zirka zwei Wochen ein Konzept vorstellen, wie der künftige politische Auftrag für den Flughafen Zürich aussehen soll.» Man darf gespannt sein.
Ernst Stocker fordert den gekröpften Nordanflug
Der Zürcher Volkswirtschaftsdirektor warnt vor einem Nein zum Staatsvertrag
Interview: asü.Herr Stocker, in der «Klotener Erklärung» vom März 2012 verpflichten sich Zürich und die Nachbarkantone auf eine sachliche Flughafenpolitik. Jetzt tobt bereits wieder der Verteilkampf. Ist der Geist der Erklärung schon verblasst?
Nein, wir pflegen nach wie vor eine gute Zusammenarbeit. Aber es ist klar, dass jeder Kanton seine Haut so teuer wie möglich verkaufen will. Die Forderung nach Opfersymmetrie kann ich aber nicht nachvollziehen. Gemäss Zürcher Fluglärm-Index 2010 leben 95,3 Prozent der stark vom Fluglärm belästigten Personen im Kanton Zürich. Deshalb stimmen wir dem Staatsvertrag nur unter dem Vorbehalt zu, dass der Bund die Umsetzung mit uns abspricht.
Und was empfehlen Sie – eine Kanalisierung oder eine Verteilung des Lärms?
Aus der Umweltschutzgesetzgebung und dem Zürcher Fluglärm-Index geht hervor, dass möglichst wenig Menschen mit Fluglärm belästigt werden sollen. Das spricht für das Ostkonzept. Es ist aber klar, dass es politisch ohne eine gewisse Verteilung nicht gehen wird.
Wie halten Sie es mit dem gekröpften Nordanflug?
Es ist eine zentrale Forderung der Zürcher Regierung, dass er eine Option bleibt. Es ist viel sinnvoller, die rund 15 Interkontinentalflüge am Morgen von Norden anfliegen zu lassen, statt den dichtbesiedelten Süden zu wecken.
Der Osten des Kantons Zürich empfindet sich als Opfer. Gewichten Sie die Wachstumspläne des Flughafens höher als die Lebensqualität der Bevölkerung?
Zurzeit gibt es kein Wachstum am Flughafen. Darum geht es in erster Linie um die Gewährleistung des heutigen Betriebs. Ohne den Staatsvertrag droht uns eine weitere einseitige Verordnung Deutschlands. Deren Einschränkungen dürften weit einschneidender sein – mit einem Nein zum Staatsvertrag ist der Zürcher Bevölkerung nicht gedient.
In Deutschland droht die Stimmung zu kippen. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann (Grüne), hat nach anfänglicher Zustimmung über den Vertrag gelästert. Sind Sie enttäuscht?
Ja, das bin ich. Ich schätze Winfried Kretschmann als Mensch. Diese Kehrtwende ist für mich aber nicht nachvollziehbar, zumal unsere Regionen verbunden sind und voneinander profitieren. So geht man miteinander im Speckgürtel nicht um.
Der Bund hat die Kontroverse angeheizt, indem er in Aussicht stellte, dass mit dem Staatsvertrag statt wie von Süddeutschland gefordert 80\'000 Bewegungen jährlich bis zu 110 000 abgewickelt werden könnten. War das ungeschickt?
Der Bund wollte offenbar den Vertrag schönen – da ist den Deutschen der Kragen geplatzt. Gegenwärtig kann wie gesagt von einem Wachstum keine Rede sein. Die Fluggesellschaften sind unter Druck, aus Kostengründen grössere und besser ausgelastete Flugzeuge einzusetzen. Ich erinnere daran: Im Jahr 2000 hatten wir am Flughafen Zürich rund 325 000 Flugbewegungen. Heute sind es knapp 280\'000.