Der Fluglärmstreit am Hochrhein soll mit Ruhezeiten statt Anflugzahlen entschärft werden. Just diese sind jedoch kontrovers. Die Schweiz rechnet mit absoluten Maxima, Deutschland extrapoliert aktuelle Zahlen.
Paul Schneeberger
Eine Grundsatzfrage hat die Auseinandersetzung um Anflüge über deutsches Gebiet auf den Flughafen Zürich Kloten in den vergangenen Jahren geprägt. Sollen, wie das auf deutscher Seite gefordert wurde, Flugzeuge gezählt werden, oder soll, wie man das schweizerischerseits präferierte, der Lärm gemessen werden? Hinzu kamen zwei für beide Seiten magische Zahlen: Hierzulande die 100\'000 Anflüge, die der 2001 von Bundesrat Moritz Leuenberger ausgehandelte, von den eidgenössischen Räten aber nicht ratifizierte erste Staatsvertrag vorgesehen hätte. In Deutschland die 80\'000 Anflüge, die südbadische Politiker in der «Stuttgarter Erklärung» von 2009 als für sie maximal akzeptable Zahl definierten.
Theoretische Maxima
Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich die Verständigung der Regierungen der Schweiz und Deutschlands im neuen Staatsvertrag auf Sperrzeiten ohne konkrete Maximalzahl für die Flugbewegungen ab 2020 durchaus als Kompromiss interpretieren. Auf die Festlegung maximaler Zahlen für Flugbewegungen wurde explizit verzichtet. Der daraus resultierenden grösseren Flexibilität des Flughafens Zürich in Bezug auf die Anflüge ausserhalb der Sperrzeiten stehen zusätzliche verbindliche Ruhezeiten für die grenznahe deutsche Bevölkerung am Morgen und in den Abendstunden ohne jegliche Nordanflüge gegenüber.
Trotz alledem wird das neue Vertragswerk von den direkt Betroffenen auch an den kontroversen Zahlen aus der Vergangenheit gemessen. Ob Zufall oder nicht: Sowohl Bern wie Berlin stellen dieses so dar, dass es den Erwartungen ihrer jeweiligen Klientel möglichst entspricht. Die deutsche Seite, indem sie die für 2020 zu erwartende Reduktion der Flugbewegungen von derzeit 105\'000 auf rund 85\'000 nennt (vgl. Zusatztext) – eine Berechnung, die vom Flughafen Zürich bestätigt wird. Demgegenüber nennt die schweizerische Seite im erläuternden Bericht zur Vernehmlassung über den Staatsvertrag ein Maximum von 105\'000 bis 110\'000 Anflügen, die auch unter dem neuen Regime über Deutschland möglich sein sollen. Insofern, so heisst es im Bericht, stelle das gegenwärtig zur Diskussion stehende Abkommen mit Deutschland gegenüber dem gescheiterten Staatsvertrag von 2001 eine «gleichwertige, eher vorteilhafte Lösung» dar.
Auch diese Zahlen bestätigt der Flughafen Zürich. Hierbei handle es sich aber nicht um für das Jahr 2020 zu erwartende Werte, sondern um theoretische Maxima, wie sie frühestens ab 2030 erwartet werden könnten. Auch das, so der Flughafen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sich heute schwach genutzte Perioden der weiterhin zulässigen Zeitfenster besser ausnützen liessen. Mit diesen Maxima könnte das Wachstum realisiert werden, das eine im Auftrag des Bundesamts für Zivilluftfahrt verfasste Studie von 2009 dem Flughafen Zürich prognostiziert. Sie geht von einem absoluten Plafond von 175\'000 Anflügen aus, wovon noch rund 61 Prozent (ca. 107\'000) über deutsches Gebiet stattfinden würden. Heute finden 78 Prozent der Anflüge auf Zürich Kloten auf diesem Weg statt.
Ein Fünftel Differenz
Ob sich das errechnete Maximum je realisieren lässt, ist offen. Ebenso ist unklar, inwiefern sich die Zunahme der Passagierzahlen auch in einer Zunahme der Flugbewegungen niederschlägt. Nicht nur in Bezug auf das im neuen Staatsvertrag vorgesehene Regime operiert der schweizerische Vernehmlassungsbericht mit theoretisch möglichen Zahlen. Das gilt auch für die derzeit möglichen Nordanflüge. Hier nennt der Bericht 122\'000 bis 128\'000 Anflüge, die über deutsches Gebiet möglich wären; tatsächlich fanden im vergangenen Jahr aber nur deren 105\'000 statt.
Berechnet man die Differenz zwischen den 105\'000 Nordanflügen, die 2011 tatsächlich stattgefunden haben, und den 128\'000 theoretisch möglichen Flügen, ergibt sich ein Potenzial von 18 Prozent, das nicht ausgeschöpft wurde. Stellt man dieselbe Rechnung an mit den von Deutschland ab 2020 angenommenen 85\'000 Nordanflügen und dem von der Schweiz genannten möglichen Maximum von 110\'000 ergibt sich eine Differenz von 23 Prozent.
Kleinere Anflug-Zeitfenster ergeben für Berlin weniger Flüge
U. Sd. Berlin
Die Zahl von 85\'000 weiterhin möglichen Nordanflügen auf Zürich Kloten, die der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer offenbar als plausible Richtgrösse für das Regime unter einem ratifizierten Fluglärm-Staatsvertrag im Auge hat, ist per Analogieschluss zustande gekommen. Wie am Montag ein Sprecher des Ministeriums in Berlin sagte, geht Ramsauer nicht einfach von einer Schätzung aus, sondern davon, dass sich analog zur Ausweitung der Ruhezeit-Fenster, die im Vertrag vereinbart wurde, die Zahl der Nordanflüge reduzieren werde. Dies sei zumindest das Ergebnis einer umfangreichen Simulation der DSF, der Deutschen Flugsicherung. Aus welchem Jahr diese Simulation datiert, konnte der Sprecher am Montag nicht sagen.
Der Sprecher betonte aber, dass Ramsauer nach wie vor und trotz politischem Gegenwind an den Staatsvertrag glaubt und alles daransetzen wird, ihn zur Ratifikation durchs Parlament zu bringen. Um die Vorbehalte aus dem grenznahen süddeutschen Bereich abzubauen, will sich der Bundesverkehrsminister noch im November mit Regionalvertretern treffen. Angesichts der extrem verhärteten Argumentationsfront wird er dabei einige Überzeugungsarbeit zu leisten haben.