Von David Nauer, Berlin.
Peter Ramsauer (CSU) ist wütend. Ursache seines Zorns ist eine Zahl. 110\'000 Flugzeuge könnten künftig über deutsches Gebiet den Flughafen Zürich anfliegen, heisst es in der Vernehmlassung des Bundesrats zum Fluglärm-Staatsvertrag. Aus Schweizer Sicht tönt das gut: Im Vergleich zur jetzigen Obergrenze von 128\'000 wäre das nur eine kleine Reduktion.
Der deutsche Verkehrsminister aber hält nicht viel von dieser Interpretation. «Es ist natürlich ein völliger Quatsch, so einen Unfug zu schreiben», sagte er gestern in Berlin auf eine entsprechende Frage des TA. Er könne nur davor warnen, eine sachlich mit nichts zu rechtfertigende Zahl in Umlauf zu bringen. Damit werde «alles in Deutschland in Brand gesteckt, was man in Brand stecken kann.»
Der Hintergrund: Seit die Details über die bundesrätliche Vernehmlassung im Umlauf sind, hat sich der deutsche Widerstand gegen den Staatsvertrag weiter verhärtet. Denn sowohl süddeutsche Politiker wie auch die Regierung in Berlin waren von deutlich weniger Überflügen ausgegangen. Genau ist die Zahl im Abkommen nicht festgelegt. Die Schweiz sagt laut Vertragstext aber zu, den deutschen Luftraum werktags nur noch bis 18 Uhr (statt wie bis jetzt 21 Uhr) zu nutzen. Dazu Ramsauer: «Wir haben klar gerechnet, dass wir durch das Zurückfahren der Zeitfenster, in denen geflogen werden darf, auf etwa 85\'000 Flüge kommen.» Für ihn sei eine Zahl von 110\'000 in keiner Weise nachvollziehbar.
Staatsvertrag vor dem Aus
Ramsauer steht wegen des Staatsvertrags unter starkem Druck. Zurzeit erarbeitet sein Ministerium ein Ratifizierungsgesetz aus. Die Vorlage sollte dann vom Bundestag abgesegnet werden. Die baden-württembergischen Landesgruppen von CDU und FDP haben aber bereits angekündigt, dem Deal nicht zuzustimmen. SPD und Grüne drohen ebenfalls mit einem Nein. Damit fehlt derzeit eine parlamentarische Mehrheit. Der Staatsvertrag steht vor dem Aus.
Das Hauptargument der Gegner ist die Zahl 110\'000. Es könne nicht sein, dass Deutschland und die Schweiz den Staatsvertrag derart unterschiedlich auslegten, sagte etwa der CDU-Chef in Stuttgart, Thomas Strobl. «Nur eine Lesart kann richtig sein und das muss jetzt geklärt werden. Bei unterschiedlicher Interpretation gibt es keinen gemeinsamen Vertrag.» Klärung verlangt auch die FDP-Landeschefin Birgit Homburger. Sämtliche Nebenabsprachen müssten identisch sein, so die liberale Politikerin, die den Landkreis Konstanz in Berlin vertritt. Die Menschen in Südbaden bräuchten eine dauerhafte Entlastung von Fluglärm. «Das war das Ziel der Verhandlungen. Das muss das Ergebnis sein.»
Was in vielen Voten mitschwingt, ist ein tiefes Misstrauen gegenüber der Schweiz. Ramsauer, so glauben viele in Baden-Württemberg, habe sich bei den Verhandlungen über den Tisch ziehen lassen. Da er selber aus Bayern stamme, interessiere er sich nicht für die Probleme der südbadischen Randregion.
Ramsauer wird bedroht
Die Kritiker des Deals spielen dabei immer öfter auch direkt auf den Mann. Er sei seit 22 Jahren Berufspolitiker, sagte der Minister gestern. Aber er sei noch nie so angefeindet und bedroht worden wie jetzt. «Es ist skandalös. So geht man mit einem Politiker nicht um.» Nun soll ein klärendes Gespräch den Staatsvertrag doch noch retten. Ramsauer will in rund vier Wochen Vertreter der baden-württembergischen Regierung, betroffene Parlamentarier, Lokalpolitiker sowie Bürgergruppen nach Berlin einladen. Dabei kommen alle offenen Fragen auf den Tisch.
Er werde auch darauf hinweisen, dass eine Ablehnung des Vertrags «ernst zu nehmende Folgen» haben würde. Der Staatsvertrag bringe bereits im kommenden Jahr eine Lärmentlastung. Ohne Staatsvertrag dagegen werde der Himmel über Südbaden nicht leiser. Im Gegenteil. «Dann ist wieder für zehn Jahre Schluss.»
Der letzte Staatsvertrag war 2002 gescheitert. Anschliessend setzte Deutschland das Anflugregime in eigener Regie fest. Eine Verschärfung dieser Verordnung hält Ramsauer nicht für möglich. Ein Scheitern des aktuellen Staatsvertrags würde demnach vorerst den Status quo zementieren.
Deutscher Brandstifter
Kommentar: Stefan Häne, Inland-Redaktor, zum Konflikt um den Fluglärm-Staatsvertrag.
110\'000 Flugbewegungen: An dieser Zahl hat sich zwischen der Schweiz und Deutschland ein Streit entzündet, der gestern eine neue Dimension erreicht hat. Der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) zeigt sich ungehalten darüber, dass der Bundesrat mit diesem Wert rechnet. Er selber geht von 85 000 Bewegungen über Süddeutschland aus. Was gilt nun\'
Keines von beidem. Ramsauer und Verkehrsministerin Doris Leuthard (CVP) haben vor zwei Monaten den FluglärmStaatsvertrag unterschrieben. Künftig sollen Anflüge am Abend drei Stunden früher als heute über Schweizer Gebiet stattfinden, nämlich ab 18 Uhr. Im Gegenzug verzichtet Deutschland darauf, die Zahl der Flugbewegungen zu beschränken. Dass nun gleichwohl ein Zahlenstreit ausbricht, ist grotesk. Ramsauer wusste, dass er im September einen Vertrag ohne konkrete Zahl unterschrieb. Wie Leuthard lobte er die Vereinbarung damals als fairen Kompromiss. Worte von vorgestern.
Inzwischen hat es Ramsauer gedämmert, dass sein Verhandlungsresultat keine Meisterleistung war. Nun will er sein Gesicht wahren – und stellt den Schweizer Bundesrat an den Pranger. Die CDU- und FDP-Parlamentarier aus BadenWürttemberg werden es ihm danken: Ihre Chancen, den Vertrag im Parlament zu Fall zu bringen, sind weiter gestiegen.
Sollte die Ratifizierung scheitern, wäre dies jedoch nicht nur die Schuld Ramsauers. Auch der Bundesrat trüge seinen Teil daran. Er hat fahrlässig gehandelt, indem er im Begleitbericht zum Staatsvertrag überhaupt eine Zahl erwähnt hat. Dass einschränkend steht, es handle sich bloss um ein langfristig mögliches Szenario, ändert daran nichts. Der Bundesrat nahm eine neuerliche Eskalation zumindest in Kauf. Kalkül oder Naivität? Beides steht der Regierung schlecht an.
Die Folgen sind für die Schweiz womöglich fatal: Ohne Staatsvertrag kann Deutschland die Anflugbedingungen selber diktieren, es drohen drastische Einschränkungen. Die Schweiz sitzt am kürzeren Hebel, auch juristisch. Ramsauer weiss darum. Entsprechend forsch tritt er auf. Solche Töne sind eines Vertragspartners jedoch unwürdig. Sie entlarven den CSU-Politiker als das, was er im Bundesrat sieht: einen Brandstifter.
Tages-Anzeiger, 27.10.2012, Seite 2
«Die Zahl 110 000 zu nennen, war ein Unsinn des Bundesrates»
Reaktionen in der Schweiz
Von Fabian Renz, Bern
Politiker werfen der Regierung taktische Fehler vor. Das Departement von Doris Leuthard kommentiert die jüngste Eskalation nur vorsichtig-diplomatisch.
Wie ist es möglich, dass der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer die Folgen des Fluglärmabkommens derart anders einschätzt als seine Schweizer Amtskollegin? Wurde bei den Verhandlungen nicht darüber gesprochen, wie viele Anflüge über deutsches Gebiet die favorisierte Ruhezeitregelung voraussichtlich auslösen würde? Kursierten schon damals die unterschiedlichen Maximalerwartungen von 110\'000 beziehungsweise 85\'000 Flügen?
Das Departement von Verkehrsministerin Doris Leuthard (Uvek) äussert sich zu all diesen Fragen, wie überhaupt zur Schelte von Ramsauer, nur hochdiplomatisch. «Was der Vertragsabschluss bedeuten würde, war beiden Delegationen klar», hält eine Sprecherin lediglich fest.
Im Übrigen bemühte sich das Uvek gestern, den Wirbel um die Zahl 110\'000 etwas einzudämmen. Ob diese Quote je erreicht werde, hänge von vielem ab – unter anderem «von der wirtschaftlichen Entwicklung und vom Passagieraufkommen». Im Vernehmlassungsbericht habe man im Zusammenhang mit dieser Prognose bewusst stets «Kann»Formulierungen gewählt.
Dennoch werten Parlamentarier, die mit dem Dossier vertraut sind, das bundesrätliche Vorgehen angesichts der jüngsten Entwicklung als taktischen Fehler. «Ich bezweifle, dass es sehr geschickt war, im Vernehmlassungsbericht von 110\'000 Flügen zu sprechen», sagt die Aargauer FDP-Ständerätin Christine Egerszegi. Schliesslich enthalte der Vertragstext Ruhezeiten, aber keinen Plafond für die Anzahl Anflüge.
Nationalrat Maximilian Reimann (SVP, AG) sagt es noch dezidierter: «Die Zahl 110\'000 zu nennen, war ein Unsinn des Bundesrates.» Zu diesem Schluss kommt Reimann auch aufgrund der Gespräche, die er in der Delegation für die Beziehungen zum Deutschen Bundestag mit dortigen Politikern führte: «Man zeigte sich sehr erstaunt, dass in der Schweiz mit einer Angabe operiert wird, die im Vertrag nirgends drinsteht.»
Der Zürcher SP-Nationalrat Thomas Hardegger wiederum glaubt, dass Verkehrsminister Ramsauer mit der Berechnung von 85\'000 Flügen der Wahrheit recht nahe kommen könnte: Darauf deute zumindest die jüngste Entwicklung bei den Flugbewegungen hin. Dass der Bundesrat 110\'000 Flüge in Aussicht stelle, sei wohl auch auf den Einfluss der Flughafen-Verantwortlichen zurückzuführen. Diese hätten wesentlichen Anteil an den Verhandlungen gehabt – «und jetzt wollen sie krampfhaft zeigen, wie erfolgreich sie waren».
Tages-Anzeiger, 27.10. 2012, Seite 17