Deutschland hält die Schweiz wieder einmal hin. Damit aus der Absichtserklärung, die der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer und die Schweizer Verkehrsministerin Doris Leuthard Anfang Jahr in Davos vereinbart haben, ein Staatsvertrag wird, sind Verhandlungen nötig. Die deutsche Delegation schiebt aber Terminprobleme vor - die Gespräche kommen nicht voran.
Die Schweiz tritt als Bittstellerin auf. Nachdem das Parlament den Staatsvertrag mit Deutschland 2003 abgelehnt hatte, erliess der Nachbar im Norden eine einseitige Verordnung. Diese schränkt den Betrieb des Flughafens Zürich ein und brachte die Einführung der Südanflüge, die über dicht besiedeltes Zürcher Gebiet führen. Die Schweiz will Deutschland dazu bewegen, die Verordnung aufzuweichen. Selber anbieten kann sie nichts. 2008 wischte Kanzlerin Angela Merkel bei einem Kurzbesuch den Schweizer Plan, die Fluglärmfrage mit anderen grenzüberschreitenden Dossiers zu verbinden, vom Tisch.
Merkel regte stattdessen die Einsetzung einer Arbeitsgruppe an. Was nach einer weiteren Verschleppung des endlosen Konflikts aussah, war ein pragmatischer Vorschlag: Es sollten Fakten ermittelt werden. Die Arbeitsgruppe nahm unter deutscher Leitung Lärmmessungen vor. Das Resultat ist eindeutig: Weder tagsüber noch nachts führen die Anflüge auf den Flughafen Zürich zu einer Überschreitung der Lärmgrenzwerte auf deutschem Gebiet. Einen Lärmpegel von mehr als 53 Dezibel erdulden im Tagesdurchschnitt 80\'000 Bewohner der Schweiz - in Deutschland ist es nicht ein einziger. Es gibt im deutschen Landkreis Waldshut keinen starken Fluglärm. Von schwächerem, aber wahrnehmbarem Fluglärm sind in der Schweiz Hunderttausende betroffen, die in der Nähe des Flughafens Zürich wohnen. In Deutschland sind es im Wesentlichen die Bewohner von Hohentengen, einem am Rhein gelegenen Dorf mit 3600 Einwohnern.
Nachdem Ende 2009 diese Daten vorlagen, hätte man von der deutschen Regierung ein Einlenken erwarten können. Süddeutschland profitiert wirtschaftlich vom Flughafen Zürich. Drei der vier grössten Fluggesellschaften an diesem Airport sind in deutschem Besitz - auf Swiss, Air Berlin und Lufthansa entfallen zwei Drittel der Flugbewegungen in Kloten. Die deutsche Seite änderte jedoch sogleich ihre Argumentation - die Fakten waren jetzt nicht mehr wichtig. Es hiess nun, es gebe auch ein «subjektives Lärmempfinden». Nicht länger auf den tatsächlichen Lärm, sondern auf die Zahl der Anflüge wollen sich die Deutschen konzentrieren. Verkehrsminister Peter Ramsauer sagte in einem Interview mit dieser Zeitung: «Die Hoffnung, man könne sich bei der Lärmfrage auf physikalisch gemessene Werte abstützen, ist dahingeschmolzen wie der Schnee unter der Davoser Frühlingssonne.»
Diese Äusserung zeugt von der Herablassung, welche die deutschen Regierungsvertreter im Umgang mit den Schweizer Amtskollegen an den Tag legen. Eine Schneeschmelze ist ein Naturereignis - die Deutschen änderten aber ihre Haltung von einem Tag auf den anderen, weil ihnen die Fakten nicht in den Kram passten. In Südbaden geben Politiker den Ton an, die sich mit der Fluglärmfrage profilieren wollen. Würde der Unsinn, den sie verbreiten, Lärm verursachen - die Emissionen wären ohrenbetäubend. Der Fluglärm gefährde den Tourismus im Südschwarzwald, sagen sie etwa. Dabei gibt es dort kein einziges Hotel, das Fluglärm ausgesetzt wäre.
Aber um Fakten geht es nicht, es geht um Machtpolitik. Deutschland drängt darauf, die Zahl der Anflüge auf der nördlichen Hauptroute zu beschränken. Für die Schweiz kann das nur in Frage kommen, wenn gleichzeitig das Betriebsreglement des Flughafens flexibilisiert wird und eine Klausel garantiert, dass die zunehmend leiseren Flugzeuge zu einer lockereren Regelung führen werden. Die Schweiz muss allerdings damit rechnen, dass Deutschland auf einer extremen Position beharrt, so dass kein Vertrag möglich ist. Darauf hat sich die Schweiz vorzubereiten - der Konflikt könnte eskalieren. Der Zürcher Regierungsrat Ernst Stocker hat in diesem Zusammenhang angeregt, es sei zu überprüfen, wie die Arbeit der 55\'000 deutschen Grenzgänger in der Schweiz erschwert werden könnte. Die Tessiner Regierung hat es mit der Einbehaltung der Quellensteuer italienischer Grenzgänger vorgemacht.
Der Einkaufstourismus der Schweizer in Süddeutschland könnte mit einer deutlichen Senkung des Zollfreibetrags abgewürgt werden. Es wäre zwar bedenklich, wenn Nachbarstaaten in dieser Weise miteinander umgingen. Die Arroganz der Deutschen darf die Schweiz aber nicht ohne Gegenmassnahmen hinnehmen, wenn sie ihre Selbstachtung nicht verlieren will.
NZZ am Sonntag, 06.05.2012, Seite 17