Von Nina Weber
Sobald das erste Flugzeug am nahen Flughafen startet, ist es für manche Anwohner mit dem Schlaf vorbei. Auch der unaufhörliche rollende Verkehr auf großen Straßen bleibt irgendwann als brummender Dauerton im Ohr hängen. Jeder dritte Europäer fühlt sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO tagsüber durch Lärm gestört. Jeder fünfte klagt, das ihm nächtlicher Krach von Autos, Zügen oder Flugzeugen den Schlaf raubt. Dass die ständige Belastung krank machen kann, ist bekannt. Es gibt nur einen Umweltfaktor, der für noch mehr Gesundheitsprobleme verantwortlich gemacht wird, ist die Luftverschmutzung.
Die WHO hat nun in einem Bericht beziffert, wie groß die lärmbedingten Gesundheitsschäden in europäischen Staaten sind. Das Ergebnis: Der Krach kostet die Europäer jedes Jahr mehr als eine Million gesunde Lebensjahre.
Die Datensammlung ist vor allem für politische Entscheidungsträger gedacht, damit sie die Lärmfolgen einschätzen und entsprechend gegensteuern können. Dabei arbeiteten die WHO-Forscher mit einem sperrigen Begriff aus der Gesundheitsökonomie, dem sogenannten Behinderungs-gewichteten Lebensjahr (englisch: Disability-adjusted Life-Year, kurz Daly). Er zeigt an, wie viele Jahre bei guter Gesundheit wegen Lärmbelastung verloren gehen. Ein Faktor ist der vorzeitige Tod, etwa durch einen Herzinfarkt. Ein anderer ist die Einschränkung der Lebensqualität, wenn ein Jahr nicht in guter Gesundheit gelebt wird.
Fünf negative Auswirkungen haben die Wissenschaftler untersucht:
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in Deutschland die häufigste Todesursache. Laut Statistischem Bundesamt starben im Jahr 2009 rund 356.000 Menschen an den Folgen einer solchen Krankheit - das entspricht knapp 42 Prozent aller Todesfälle in Deutschland. Diverse Studien deuten darauf hin, dass Straßen- und Flughafenlärm das Risiko erhöht, Bluthochdruck zu entwickeln oder einen Herzinfarkt zu erleiden - wobei Lärm bei weitem nicht der einzige Faktor ist, der das Infarktrisiko erhöht. Laut dem neuen WHO-Bericht kosten durch vom Lärm verursachte koronare Herzerkrankungen jährlich 61.000 gesunde Lebensjahre. Diese Zahl bezieht sich auf 27 Staaten in Nord-, West- und Südeuropa, die sogenannten Eur-A-Staaten (siehe Kasten).
- Kognitive Beeinträchtigungen von Kindern: Studien zeigen, dass Lärm die geistige Leistung von Kindern senkt - etwa das Gedächtnis, das Textverständnis beim Lesen sowie die generelle Aufmerksamkeit. Dieser Effekt kann auch dann noch eine Weile anhalten, wenn es wieder stiller geworden ist. Werden Schulkinder regelmäßig durch Lärm im Lernen eingeschränkt, könnte das negativ auf ihren gesamten folgenden Bildungsweg wirken. Es handelt sich um keine klinisch definierte Krankheit, betonen die Forscher selbst. Sie sind auch davon ausgegangen, dass der Lärm die geistigen Fähigkeiten nicht langfristig stört. Allerdings kann die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen - in der Studie wurde die Altersgruppe von sieben bis 19 Jahren betrachtet - durch die akute Belastung eingeschränkt sein. Der WHO-Bericht beziffert den Schaden auf 45.000 verlorene gesunde Lebensjahre in den Eur-A-Staaten- wobei in diesem Fall keine direkten Todesfälle zu verzeichnen sind.
- Schlafstörungen sind laut dem Bericht die häufigste Folge der Lärmbelastung. Die WHO zitiert eine Untersuchung, in der etwa jeder achte Niederländer angab, dass Straßenlärm seinen Schlaf beeinträchtigt. Auf den Verlust von 903.000 gesunden Lebensjahren beziffern die WHO-Forscher den jährlichen Effekt - in diesem Fall gerechnet auf alle EU-Bürger, die in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern leben. Schlechter Schlaf wirkt unmittelbar auf den kommenden Tag: Die Leistung lässt nach, die geistigen Fähigkeiten sind beeinträchtigt. Folgen Nächte mit zu wenig und häufig unterbrochenem Schlaf aufeinander, kann sich eventuell eine chronische Schlafstörung entwickeln.
- Unter Tinnitus leiden in Deutschland geschätzte drei Millionen Menschen. Die Ohrgeräusche können Schlafstörungen und Hörprobleme, Angstzustände oder Depressionen auslösen. Eine Heilung gibt es nicht. Die WHO geht davon aus, dass durch Dauerlärm verursachter Tinnitus jährlich 22.000 gesunde Lebensjahre in den Eur-A-Staaten kostet. Das wäre dann ein größeres Gesundheitsproblem als etwa Hepatitis B oder der graue Star.
- Auch Verstimmung haben die Forscher als Lärm-Konsequenz untersucht. Denn Lärm nervt: Menschen sind gereizt, ärgern sich, fühlen sich gestresst, erschöpft, wütend. Der tatsächliche Effekt auf den Einzelnen mag zwar gering sind, aber vor allem in Städten ist Lärm allgegenwärtig. Die Wissenschaftler kommen auf 587.000 Lebensjahre bei guter Gesundheit, die so jährlich verloren gehen - auch hier bei EU-Bürgern, die in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern leben.
Allerdings handelt es sich bei diesen Zahlen nur um grobe Werte: Die Forscher mussten aufgrund der Daten aus den Fremdstudien abschätzen, wie groß der Anteil des Lärms auf die fünf Probleme ist und wie viele Europäer welchen Lärmpegeln ausgesetzt sind. Rok Ho Kim, unter dessen Federführung der Report entstanden ist, hofft dennoch, dass der Bericht "dazu beiträgt, dass die EU strengere Grenzwerte für Lärmbelästigung einführt".