Letzte Woche hat das Bundesgericht einen folgenschweren Entscheid gefällt. Anwohner in der Ostschneise des Zürcher Flughafens mussten schon am 1. Januar 1961 wissen, dass sie ab Oktober 2001 eine massive Zunahme des Fluglärms zu verzeichnen haben würden (NZZ 1. 7. 10). Der Entscheid ist deshalb folgenschwer, weil nur mehr Liegenschaften, die vor dem erwähnten Datum gebaut oder erworben wurden, für enteignungsrechtliche Minderwertentschädigung wegen übermässiger Lärmimmissionen in Frage kommen.
Mit seinem Urteil korrigiert, ja pulverisiert das oberste Gericht den Entscheid der Vorinstanz, des Bundesverwaltungsgerichts. Es hatte das Stichdatum für die Vorhersehbarkeit auf den 23. Mai 2000 gelegt. Einen Tag zuvor war die bilaterale Vereinbarung über das Anflugregime von deutscher Seite einseitig gekündigt worden. Dies schien ein logischer Entscheid, war doch die Kündigung die Ursache dafür, dass nach einem Umweg über den gescheiterten Staatsvertrag zusätzliche Ostanflüge und später die Südanflüge eingeführt werden mussten. Nur so konnte man den Flugbetrieb trotz der von Deutschland verhängten Teilzeitsperrung des Nordanflugs aufrechterhalten.
Desavouierung duldsamer Anwohner
Das Bundesgericht begründet sein Urteil mit konstanter Rechtsprechung. Das Stichdatum 1961 folge einer alten Regel, die in allen Verfahren gelte und nicht beliebig angepasst werden dürfe. Die Lausanner Richter verlangen von den Anwohnern nicht weniger als hellseherische Fähigkeiten, indem sie sich auf Urteile berufen, die sie in den 1990er Jahren gefällt hatten, lange bevor irgendjemand ahnen konnte, dass das organisch gewachsene Zürcher Anflugregime innert kürzester Zeit auf den Kopf gestellt werden sollte.
Wie realitätsfremd das Urteil ist, demonstrieren die Richter am schönsten mit dem folgenden Satz: «Zwar waren die konkreten Gründe, die zur Einführung der Ostanflüge im Herbst 2001 führten, für die betroffenen Grundeigentümer unvorhersehbar. Die Auswirkungen hielten sich jedoch im Rahmen dessen, was schon am 1. Januar 1961 vorhersehbar gewesen war.» Mit seinem Urteil für den Ostanflug desavouiert das Bundesgericht eine Anwohnerschaft, die die Existenzberechtigung des Flughafens nie angezweifelt hat, sondern den Lärm bis heute kritisch, aber mit wenig Wehklagen akzeptiert. Diese Geduld wollen Bund, Kanton und Flughafen künftig noch stärker strapazieren, indem man den Ostanflug zugunsten des Südens - unterstützt von einer Verlängerung der Westpiste - noch weiter ausbauen will. Es ist vor diesem Hintergrund nicht recht nachvollziehbar, warum man diesen Betroffenen das Anrecht auf eine vernünftige Entschädigung entziehen will.
Flughafen ist auf Goodwill angewiesen
In diese Kritik muss man auch den Flughafen einbeziehen. Die Verantwortlichen beteuern bei jeder Gelegenheit, dass man das Unternehmen nicht gegen den Willen der Anwohner betreiben könne. Das Lausanner Urteil ist aber aufgrund einer Beschwerde der Flughafen Zürich AG zustande gekommen. Niemand ausserhalb der ganz radikalen Kreise spricht dem Flughafen das Recht auf ein vernünftiges Wachstum ab. Aber man soll diejenigen Leute, die aufgrund der profitablen Tätigkeit der Unternehmung materielle Einbussen erleiden, angemessen entschädigen.
Notabene verfügt man am Flughafen über einen Lärmfonds, der gut dotiert und mit einer komfortablen Rückversicherung ausgestattet ist: Der Kanton Zürich trägt gemäss einem Abkommen aus dem Jahr 2006 sämtliche Entschädigungsrisiken, die über eine Summe von 1,1 Milliarden Franken hinausgehen, und schöpft zu diesem Zweck einen Teil der Fondseinnahmen ab. Mit etwas grosszügigerem Entgegenkommen könnte die Betreibergesellschaft bei der Bevölkerung ohne tiefgreifende finanzielle Auswirkungen Goodwill schaffen, auf den sie angesichts der Wachstumspläne dringend angewiesen ist.
Die Diskussion wird sich beim Südanflug wiederholen. Beobachter sehen im jüngsten Bundesgerichtsurteil ein Präjudiz für den noch ausstehenden Entscheid für die Südschneise, die seit 2003 neu belärmt wird. Wenn das Bundesgericht seine merkwürdige Praxis weiterverfolgt, dann hätte man auch hier schon 1961 wissen müssen, dass 42 Jahre später die Jets über die Häuser donnern würden. Das ist deshalb besonders stossend, weil noch nicht einmal der Behörden-verbindliche kantonale Richtplan von 1995 eine entsprechende Flugroute vorsah. Die Lausanner Richter wären gut beraten, in dieser Frage noch einmal über die Bücher zu gehen.
von Adrain Krebs