Von Antonio Cortesi, Arbon - Andrea Vonlanthen gibt sich kämpferisch. «Beim Anflugverkehr auf Kloten haben die Deutschen einseitig Beschränkungen beschlossen», sagt der Thurgauer SVPKantonsrat, «jetzt könnte die Schweiz doch beim Bahnverkehr dasselbe tun.» Vonlanthen lebt in Arbon und weiss, wovon er spricht. Seine Wohnung liegt zwar rund hundert Meter von der Eisenbahnlinie entfernt. «Wenn die deutschen Güterzüge mit ihrem uralten Rollmaterial vorbeidonnern, klirren bei mir aber die Gläser.» Bis zu dreissig Güterzüge verkehren täglich auf der ansonsten wenig frequentierten Strecke Kreuzlingen–Rorschach, viele davon in der Nacht und an den Wochenenden. Der Grund: Die deutsche Railion benützt seit vier Jahren die Seelinie auf schweizerischem Gebiet als Transitachse für Warentransporte nach Österreich. Dieser Umweg spart der Tochter der Deutschen Bahn Zeit und Kosten. Denn auf der nördlichen Bodenseeseite ist die Strecke zum Teil noch nicht elektrifiziert, was einen Lokwechsel nötig macht.
Wer viel Lärm macht, soll zahlen
Die Deutschen können sich dabei auf bilateral verbrieftes Recht stützen – der freie Netzzugang ist im Landverkehrsabkommen zwischen der Schweiz und der EU verankert. Und die Schweiz profitiert ihrerseits: Die Railion bezahlt den SBB für die Durchfahrt sogenannte Trassepreise. Doch der Widerstand gegen den «deutschen Lärmexport» wächst und zieht immer weitere Kreise. Den Anfang machte die Interessengemeinschaft Seelinie, in dessen Vorstand Andrea Vonlanthen sitzt. Inzwischen werden die Anliegen der Protestbewegung von insgesamt 20 Gemeindepräsidenten am Bodensee mitgetragen. Auch die Thurgauer Regierung ist nach anfänglichem Zögern aufgesprungen. Und jetzt wird der Zuglärm im Bundesparlament ein Thema – mit koordinierten Vorstössen des Thurgauer SVP-Ständerats Hermann Bürgi und des St. Galler CVP-Nationalrats Thomas Müller.
Man wolle ausloten, wie gross der rechtliche Spielraum für Einschränkungen des freien Netzzuggangs sei, sagt Müller, der als Rorschacher Stadtpräsident vom Lärm der Güterzüge unmittelbar betroffen ist. Ihm schweben – analog zu den Vorschriften im Luftverkehr – Lärmschutzzuschläge und ein Nachtfahrverbot vor. Auch Bürgi will bei den Trassepreisen ansetzen: «Wer mit altem Rollmaterial fährt, soll entsprechend bestraft werden. Das könnte eine lenkende Wirkung haben.» Argumentationshilfe sollen die Bundespolitiker von zwei Rechtsgutachten erhalten, die der Thurgauer Volkswirtschaftsdirektor Kaspar Schläpfer (FDP) erstellen lässt. Wie gross die Chancen auf eine Intervention des Bundes sind, lässt sich schwer abschätzen. Noch Anfang Jahr liess Max Friedli, Direktor des Bundesamts für Verkehr, die IG Seelinie abblitzen. Er verwies in einem Antwortschreiben auf die durch mehrere Volksabstimmungen gestützte Verlagerungspolitik des Bundes und gab zu bedenken, dass Einschränkungen beim Bahngüterverkehr bloss eine «Verschiebung des Lärmproblems zum Strassenverkehr » zur Folge hätten.
Auch von Seiten der SBB bekamen die Lärmgeplagten bisher wenig Ermutigendes zu hören. Man stellte sich auf den Standpunkt, der Schlüssel zur Reduktion des Lärms liege bei technischen Massnahmen beim Rollmaterial. Die SBB seien diesbezüglich gut unterwegs, und auch die deutsche Railion habe ein Sanierungsprogramm gestartet. Grund zur Hoffnung gibt es dennoch. Das Preissystem bei der Vergabe des Schienennetzes wird derzeit überarbeitet. Wie Werner Grossen, stellvertretender Geschäftsführer der Trasse Schweiz AG, bestätigt, soll dabei just jener Malus eingeführt werden, den die Ostschweizer Politiker fordern – mit Straftarifen für lautes Rollmaterial. Sie dürfte allerdings nicht vor 2012 eingeführt werden.
Bald auch in Zürich ein Thema?
Grossen relativiert zugleich den Protest aus der Ostschweiz: «Die Anwohner auf den klassischen Transitachsen Gotthard und Lötschberg sind viel schlimmer dran.» Das ist auch Thomas Müller klar. Der CVP-Politiker ist aber überzeugt, dass sich die Situation spätestens mit der Eröffnung der Neat dramatisch verschärfen wird.
Bis dann werde auch der HGV-Anschluss nach München bereit sein und St. Margrethen für Güterzüge «zum Einfallstor zur Neat» werden – und zwar über die Strecke Romanshorn–Frauenfeld–Winterthur– Limmattal. «Spätestens dann wird es auch im Kanton Zürich einen Aufschrei geben.»
Tages-Anzeiger, 28.11.2008, Seite 5