Neues Kapitel im Verteilkampf um den Flughafen: Der Osten hält dem Süden vor, offiziell gar nicht von Lärm betroffen zu sein, und ruft genüsslich nach geraden Südstarts. Die Schneiser sind empört, die Zürcher Volkswirtschaftsdirektion widerspricht.
Andreas Schürer
Der Eindruck verdichtet sich – der Treiber des Streits um den Flughafen Zürich ist weniger störender Lärm als vielmehr der argwöhnische Verteilkampf. Dieser wird gegenwärtig besonders heftig ausgetragen. Die Vereinigungen im Süden bekämpfen die drohenden geraden Starts ab der Piste 16 über Teile der Stadt Zürich und des Glatttals sowie über die Zürichseeregion und das Zürcher Oberland. Am 21. September soll in Zürich eine Grossdemonstration mit mindestens 5000 Teilnehmern stattfinden. Jetzt kontert der Verein Bürgerprotest Fluglärm Ost (BFO). «Die wahren Zahlen im Fluglärmstreit» heisst die Kampfschrift, die nun die Runde machen soll. Ziele sind, Bundesrätin Doris Leuthard die Einführung des neuen Südstarts schmackhaft zu machen, die Kantonsräte gegen Pistenverlängerungen zu mobilisieren, den Zürcher Volkswirtschaftsdirektor Ernst Stocker der «Zahlenschummelei» zu überführen – und nicht zuletzt wohl das Thema in den Schlagzeilen zu halten.
«Bewegung ohne Lärm»
Die Kernaussage des BFO lautet, die Südschneiser seien eine «Protestbewegung ohne Fluglärm». Um auf diese Aussage zu kommen, haben sie den Schlussbericht zum Sachplan Infrastruktur Luftfahrt (SIL) aus dem Jahr 2010 ausgegraben und mit Bezug auf das jetzige Betriebsregime die errechneten Überschreitungen der Immissionsgrenzwerte (IGW) pro Gemeinde ausgewertet. Ihr Fazit: Im Osten sind rund 13\'500 Personen von IGW-Überschreitungen betroffen, im Norden rund 16\'500, im Westen 14\'000 – und im Süden nur 10\'900. Die einzigen Gemeinden im Süden, die gemäss SIL-Grundlage Fluglärm erdulden müssten, seien Opfikon-Glattbrugg und Wallisellen. Da diese nicht im Fluglärmforum Süd vertreten seien, repräsentiere dieses nicht einen Betroffenen. Dies müsse sich bewusst sein, wer etwa den Süddeutschen vorhalte, es gebe bei ihnen keinen Lärm – angesichts nicht überschrittener Grenzwerte. Der BFO-Sprecher Fritz Kauf sagt: «In Nürensdorf leben mit Blick auf die relevanten Grenzwerte in einer einzigen Dreizimmerwohnung mehr Fluglärmbetroffene als in der ganzen Stadt Zürich.»
Mit Pistenverlängerungen und dem Ostkonzept fiele die Verteilung noch einseitiger zugunsten des Südens aus, schreibt der BFO. Nur 9 Prozent der Lärmbetroffenheit müsse diese Region dann tragen. Um lediglich einen Prozentpunkt stiege die Belastung laut den Berechnungen im SIL-Schlussbericht, wenn der Südstart geradeaus eingeführt würde. Der Volkswirtschaftsdirektor Ernst Stocker, der die aus seiner Sicht heute schon ungebührlich hohe Belastung des Südens hervorstreiche, schummle. Fritz Kauf meint: «Um seine Wähler im Süden vor Fluglärm zu schützen, verdreht er Zahlen aus dem offiziellen SIL-Bericht – zulasten des Nordens, Ostens und Westens.»
Die Zürcher Volkswirtschaftsdirektion widerspricht. Es stimme zwar, dass im Süden zum Beispiel in der Stadt Zürich heute keine Grenzwerte überschritten würden, sondern nur in Opfikon-Glattbrugg und in Wallisellen. Die vom BFO verwendeten Zahlen führten jedoch in die Irre. Im Osten seien im heutigen Betrieb nämlich nur knapp 6000 Personen von Grenzwertüberschreitungen betroffen – nur halb so viel wie insgesamt in den beiden erwähnten Südgemeinden. Der BFO stütze sich mit Verweis auf den SIL-Schlussbericht auf Berechnungsmodelle statt auf aktuelle Zahlen aus dem Jahr 2012 ab. Nicht einlassen auf den Zürcher Zahlenstreit will sich das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl). Es gehe in der Fluglärmdiskussion nicht nur um Grenzwerte, sagt der Sprecher Urs Holderegger. Ob Lärm störe, sei auch eine Frage des subjektiven Empfindens. Stark störe er vor allem, wenn er neu auftrete. Dass der Süden Zürichs voreingenommen geschont werde, wie das BFO kritisiere, stimme nicht. Die Einführung des geraden Südstarts werde vom Bazl geprüft, vor allem aus Sicherheitsgründen.
Fluglärm kanalisieren
Erstaunt über die Argumentation des Bazl ist der Thurgauer Regierungsrat Jakob Stark. Er hält es zwar für richtig, dass mit Blick auf die tatsächliche Belastung der Bevölkerung mehr auf die Häufigkeit und Intensität der Einzelereignisse abgestellt werde – also auch auf das subjektive Empfinden. Umso befremdlicher sei, dass der Kanton Thurgau aus dem SIL-Prozess ausgeschlossen worden sei, weil keine Grenzwertüberschreitungen stattfänden. Dabei fänden im Hinterthurgau am Mittag und am Abend Überflüge statt, die deutlich über 70 Dezibel Lärm verursachten. Angesichts der Konfusion sei eine neue Beurteilungsgrundlage für Fluglärm wünschenswert, sagt Stark.
Für die Stadt Zürich ist dies unnötig. Sprecher Nat Bächtold verweist darauf, dass für die Zürcher Diskussion der vom Volk festgelegte Fluglärmindex (ZFI) aussagekräftig sei. Gemäss diesem Instrument lebten heute 14,5 Prozent aller Betroffenen in der Stadt Zürich und 35 Prozent im Süden insgesamt. Das Ziel müsse sein, so wenig Menschen wie möglich mit Fluglärm zu belasten. Das Bazl habe im Oktober im SIL-Objektblatt-Entwurf aufgezeigt, dass Konzepte mit Südanflug oder Südstart deutlich am meisten Personen beträfen. Die sei dringend zu vermeiden.
Für Richard Hirt, Präsident des Fluglärmforums Süd, ist die Offensive des Vereins aus dem Osten «reine Demagogie». IGW-Grenzwerte seien errechnete Zahlen, das Empfinden bildeten diese Formeln nicht ab. Was Südstarts geradeaus für die Bevölkerung bedeuteten, sei während des Baus des Dock Midfield klar geworden: «Der Lärm war so unerträglich, dass Schulen auf Kosten des Flughafens in Klassenlager geschickt wurden.» Thomas Morf, Präsident des Vereins Flugschneise Süd-Nein, gerät auf Anfrage in Rage. Die Schlammschlacht der Regionen bringe nichts, im Gegenteil: «Wenn der Osten die Energie, die er für den Kampf gegen den Süden braucht, für gemeinsame Anliegen einsetzen würde, hätten wir dem Flughafen längst Schranken gesetzt.»
Kommentar VFSN:
Laut BFO hat der Süden heute gar keinen Fluglärm, also 0%. Konzentriert man hingegen die Flugbewegungen einseitig auf den Osten (keine Südanflüge mehr), dann habe der Süden nur noch 9% Lärmbetroffene. Diese Art der BFO-Mathematik ist definitiv zu hoch für uns.
siehe auch:
Fluglärm soll nicht verteilt, sondern muss reduziert werden (VFSN)