«Das Fluglärmproblem hat keine Farbe» (NZZ)

Publiziert von VFSNinfo am
In Berlin ist der Streit um den Fluglärm-Staatsvertrag kein Thema. In Baden-Württemberg wird das Abkommen von einer Allparteien-Front bekämpft.

Ulrich Schmid, Hohentengen

Geteilte Meinungen, was sonst? Die einen finden den Fluglärm belastend, die anderen erträglich, die dritten unerheblich. Wir beginnen mit ersteren, sie sind in Hohentengen, das ziemlich direkt in der Einflugschneise des Zürcher Flughafens liegt, natürlich gut vertreten. Walter Boche etwa wohnt seit 1967 hier. Der Lehrer ist freundlich, rhetorisch geschult, weiss viel und hat klare Meinungen. Der Fluglärm-Staatsvertrag, also nein, der «geht nicht». Die Zahl der An- und Abflüge ist zu reduzieren, die Flughöhen «müssen rauf». Der Flughafen Zürich sollte seinen Lärm nicht exportieren, so ein Verhalten ist inakzeptabel. Von den deutschen Politikern hält Lehrer Boche auch nicht viel. «Die informieren nicht richtig.»

Weniger Lebensqualität
Oder Iris Vosskühler. Die liebenswürdige Frau, die im eisigem Wind ihre Einkäufe umklammert und dennoch geduldig Auskunft gibt, leidet «ganz schön» unter dem Lärm. Sie wohnt seit fünf Jahren hier in Hohentengen, ihre Lebensqualität ist massiv beeinträchtigt. Wie bitte? «Massiv beeinträchtigt!» Oben, in den Wolken, hängt ein dröhnendes Flugzeug. Vosskühler beklagt die «unflexible und starre Haltung» der Zürcher Flughafenbehörden. Ein Vertreter der zweiten Gruppe ist Franco Da Curso, den wir in Erzingen im Klettgau treffen. Da Curso, Sohn italienischer Einwanderer, ist Klettgauer seit Geburt, und er findet das «alles in Ordnung hier, so, wie es ist». Der Streit sei übertrieben, hier sei der Lärm nicht gross. Schlimmer sein, dass manchmal blinde Passagiere aus den Radkästen der Flugzeuge fielen. Das sei hier in den letzten Jahren zweimal geschehen.

Für Simone Birkhahn wiederum, die wir ebenfalls in Erzingen treffen, ist das mit dem Lärm hier alles «pillepalle». «Hör\'n Se was?» Sie öffnet den Mund, schliesst die Augen und horcht in pädagogischer Überdeutlichkeit. Hier in Erzingen, sagt Birkhahn, leide niemand. Was die Menschen viel mehr aufwühle, sei die Atommülldeponie, die die Schweizer ennet dem Rhein anlegen wollten. Birkhahn spielt auf die «Nördlich Lägern» an, die als möglicher Standort zur Lagerung radioaktiver Abfälle in einem Evaluationsverfahren der Nagra eine Rolle spielt.

Noch radikaler, brachial radikal fast, gibt sich Bertus Kers, ein standfester Holländer, der jedes Jahr ein paar Monate in Hohentengen lebt. Verglichen mit dem, was er damals, als er in Frankfurt wohnte, auszuhalten hatte, sei dies hier eine Bagatelle, ein Witz, gar nichts! In Frankfurt hätten die Menschen stets versucht, alles Wichtige in zwei Minuten zu sagen, bevor sie die nächste dröhnende Maschine zum Schweigen gebracht habe.

Unzumutbare Belastung
Es will nicht ganz einleuchten, warum die deplorablen Frankfurter Zustände die sehr ernste Lage in Hohentengen legitimieren sollten. Aber Tatsache ist auch, dass sich an diesem Tag trotz der aviatischen Dauerbeschallung eine deutsche Wutbürger-Stimmung nicht so recht einstellen will. Die Leute sind einfach zu nett. Fassbar verärgert ist lediglich Rolf Weckesser, Vorsitzender der «Bürgerinitiative Flugverkehrsbelastung Landkreis Waldshut».

Er will uns nichts sagen, «weil einem die Medien alles im Mund herumdrehen» und verweist stattdessen auf die Webseite seiner Organisation, die mit viel Farbe, Fettschrift und Ausrufezeichen klarmacht, dass man hier andere Vorstellungen von Zumutbarkeit hat als in Berlin, Zürich oder Bern. Hier endlich wird mit härteren Bandagen gekämpft, hier weht einen etwas vom Verbissenen, leicht Sektiererischen an, das sich im Umfeld der «Stuttgart-21»-Gegner so oft fand.

Für zumutbar hält auch Tilman Bollacher den Lärm hier nicht. Der Christlichdemokrat ist seit 2006 der Landrat des Landkreises Waldshut. Was Bollacher am derzeitigen Gerangel vor allem nervt, ist die tatsächlich beklagenswerte Insistenz, mit der Schweizer Bürger, aber auch Blätter jeder Couleur meinen, den Baden-Württembergern beibringen zu müssen, wie furchtbar undankbar und überempfindlich sie doch angesichts der Tatsache seien, dass sie ja vom Zürcher Flughafen auch profitieren dürften – als stünde es Deutschen nicht zu, sich genauso vehement für ihre Interessen einzusetzen, wie das die Schweizer seit Jahrzehnten tun.

Mit gezinkten Karten
«Der Staatsvertrag ist tot», sagt Bollacher. Erst recht nun, wo enthüllt worden sei, dass die Schweizer Luft-Sicherheits-Überwachung (Caso) den Südanflug offenbar als wesentlich weniger risikobehaftet ansehe als den Nordanflug, für den sich nebst Bundesrätin Leuthard auch Lokalpolitiker wie der Zürcher Regierungsrat Ernst Stocker stets mit dem Argument eingesetzt hatten, er biete eine klar höhere Sicherheit.

Wenn an diesen Berichten etwas dran sei, so Bollacher, entbehre der Staatsvertrag jeder Grundlage, denn offensichtlich sei dann mit gezinkten Karten gespielt worden. Das gelte im Übrigen auch für die in der deutschen «Denkschrift» zum Staatsvertrag gemachte Aussage, ohne den süddeutschen Luftraum komme der Flughafen Zürich keinesfalls aus. Allein schon die Tatsache, dass bei Westwind komplett von Osten her gelandet werde, und zwar problemlos und ohne Flugplan-Verspätungen, beweise das Gegenteil. An solchen Tagen fliege kein einziges Flugzeug über Südbaden.

Unglücklich ist Bollacher natürlich auch darüber, dass er im letzten Sommer zunächst verhalten positiv auf den Staatsvertrag reagiert hatte. Kein Wunder, sagt er, vor Tische las man\'s anders. Er und seine Mitstreiter seien damals im Glauben gelassen worden, es gehe um 82\'000 bis maximal 85\'000 Nordanflüge. Dies sei die Einschätzungsgrundlage gewesen, von denen alle ausgegangen seien. Dann sei im Vernehmlassungspapier des Schweizer Bundesrates plötzlich die Zahl von 110\'000 Flügen aufgetaucht, was natürlich inakzeptabel sei. Und in die Absenkung der Flughöhen bei den Nachtanflügen von 3600 auf 2400 Meter über Meer habe man nur deshalb eingewilligt, weil man im Glauben gelassen worden sei, die Flugzeuge flögen zur Entlastung des Luft-Warteraums «Rilax» eine Schleife über Oberschwaben und den Bodensee. Nun sehe es so aus, als ob man schweizerischerseits an diese Schleife gar nicht mehr denke.

Überparteilicher Konsens
Bollacher ist nicht prinzipiell gegen bilaterale Abmachungen. Im Gegenteil, er ist der Meinung, es brauche einen Staatsvertrag. Er glaubt, dass man die aufgekommenen Probleme lösen muss und lösen kann. Aber er fordert Klarheit. Mit Ungefährem und Strittigem lasse man sich nicht noch einmal abspeisen. Alles, auch die kleinsten Details, müssten auf den Tisch. Die Schweizer müssten klipp und klar offenlegen, was sie wollten – wie viele Flüge zu welchen Zeiten, welche Höhen, welche Anflugrouten und Warteräume. Dann könne man das durch Gutachter prüfen lassen und zustimmen oder ablehnen. Eine Ratifikation des überarbeiteten Vertrags vor der Bundestagswahl 2013 schliesst Bollacher kategorisch aus.

Der zwischen Leuthard und Ramsauer ausgearbeitete Vertrag hat in Berlin tatsächlich keine Chance mehr. Der süddeutsche Konsens gegen das Fluglärm-Abkommen ist ein fast totaler, der deutsche ist erdrückend. Die Süddeutschen, sonst dem zähen Zank durchaus zugetan, sind sich für einmal einig. «Das Fluglärmproblem hat keine Farbe», sagt Bollacher.

Im Stuttgarter Landtag haben sich Anfang November alle vier Fraktionen noch einmal deutlich gegen den Staatsvertrag ausgesprochen. Alle wichtigen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen mit Ausnahme der Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee unterstützen die Stuttgarter Erklärung, die als deutsche Verhandlungsgrundlage gilt. Die baden-württembergischen Landesgruppen der CDU und der SPD im Bundestag zu Berlin haben sich gegen den Vertrag ausgesprochen, ebenso die Grünen und die Sozialdemokraten.

Blamage für Ramsauer
Für Verkehrsminister Ramsauer ist die vorläufige Stornierung des Fluglärm-Staatsvertrags eine schmerzhafte Blamage. Ein bereits paraphiertes Abkommen, dessen schnelle Ratifikation man monatelang angekündigt hatte, plötzlich auszusetzen, macht keinen guten Eindruck. Ramsauer kam in den deutschen Zeitungen allerdings praktisch ungeschoren davon. Das hat weder mit der legendären Milde der hiesigen Medien zu tun noch mit der gnadenvollen Weihnachtszeit, sondern damit, dass der Fluglärmstreit in Berlin schlicht kein Thema ist. Was die Schweiz in Wallung bringt, interessiert hier niemanden. Wenn man über Flughäfen spricht, dann über den von Berlin, aber nicht wegen dem Lärm, sondern weil er nicht fertig wird und zu viel kostet. Fluglärmstreitigkeiten sind regionale Themen, sie beschäftigen die Menschen in Berlin, Frankfurt, München und Hamburg.

In Stuttgart hingegen ist das Thema ein extrem brisantes, nicht zuletzt deshalb, weil es hier einige auffallend flotte Positionswechsel gab. Zunächst hiessen alle Parteien, auch die regierenden Grünen, den Staatsvertrag prinzipiell gut, dann rückten sie von ihm ab. Um das zu bemänteln, beschuldigt man nun den politischen Gegner geradezu leidenschaftlich der Prinzipienlosigkeit.

Am aggressivsten gibt sich die CDU, die Schwesterpartei der CSU, der Minister Ramsauer angehört. Kaum ein Tag vergeht, an dem man Ministerpräsident Kretschmann nicht vorhält, «umgefallen» zu sein oder die grün-rote Regierung beschuldigt, «die drei Affen» zu spielen, «die nichts mitbekommen». Das ist weder klug noch produktiv noch aufrichtig, denn auch die CDU hatte das Abkommen zunächst begrüsst. Im Verkehrsministerium in Berlin ist die Zustimmung aktenkundig.

Stuttgarter Hickhack
Doch Kretschmann ist Regierungschef, und wie der Fraktionschef der Liberalen im Stuttgarter Landtag, Hans-Ulrich Rülke, im Gespräch sagt, sassen die Oppositionsparteien CDU und FDP in den Verhandlungen mit der Schweiz, anders als die Bundes- und die Landesregierung, nicht am Tisch. Kretschmann nannte den Vertrag zunächst dennoch ein «im Grundsatz zu begrüssendes Ergebnis». Später revidierte er sich, leidlich zerknirscht, und räumte ein, er hätte sich mehr Zeit lassen sollen. «Auf den ersten Blick» habe der Vertragstext positive Elemente enthalten. «Aber wir haben immer betont, dass das Kleingedruckte das Grossgedruckte nicht aufheben darf.» Nun habe sich aber gezeigt, dass der Bund die Unklarheiten nicht habe ausräumen können. Grundsätzlich wünscht sich jedoch Kretschmann, genau wie Bollacher, einen Staatsvertrag.

Zu später besserer Einsicht gelangten auch andere. Freimütig gibt Rülke zu, da Ramsauer den gefundenen Kompromiss zunächst als «gangbaren Weg» bezeichnete, habe eben auch die FDP ihn begrüsst. Dass er nicht tauglich sei, sei später klargeworden. Den Vertragstext per se hält Rülke im Übrigen für ausreichend. Ihm geht es, genau wie Ramsauer, darum, dass im Begleittext die strittigen Punkte geklärt werden. Von nun an müssten verlässliche, überprüfbare Angaben gemacht werden. Komme man zu einem guten Kompromiss, werde es von Seiten der FDP keine Obstruktion geben. Im Übrigen sei den Liberalen der Streit lästig. Keinesfalls habe man etwas gegen die Schweiz, mit der Baden-Württemberg ja vorzügliche Wirtschaftsverbindungen pflege.

Identitätskrise der CDU
Dass sich die regierenden Grünen auf die Seite lärmgeplagter Bürger schlagen, leuchtet ein und entspricht dem Selbstverständnis der Partei. Doch was hat die CDU dazu gebracht, dem Unions-Minister Ramsauer in den Rücken zu fallen? Fragt man in Stuttgart nach, so ist dafür ausschliesslich «die Materie» ausschlaggebend. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Wichtiger dürfte der Schock der letzten, verlorengegangenen Landtagswahl sein.

Die Partei, die das Land 56 Jahre lang regierte, sah sich plötzlich dem Vorwurf der Bürgerferne ausgesetzt und geriet in eine tiefe Identitätskrise, von der sie sich bis jetzt nicht erholt hat. Sie grollt dem Schicksal, sieht sich offensichtlich noch immer als Staatspartei und kommt mit der Oppositionsrolle nicht zurecht. Über die anhaltende Popularität Ministerpräsident Kretschmanns und dessen verstörende Anziehungskraft auf Konservative ist man geradezu entsetzt. Deshalb tut man alles, um wenigsten jetzt «nahe am Bürger» zu sein.

Wie geht es weiter? Erst einmal ist der Staatsvertrag auf Eis gelegt. In Berlin heisst es im Verkehrsministerium, in den kommenden Wochen würden die strittigen Punkte im Dialog mit den südbadischen Fluglärmgegnern und der Regierung in Stuttgart geklärt. Dies werde bis tief ins nächste Jahr dauern. Dann werde Minister Ramsauer mit einem revidierten Begleittext auf Bundesrätin Leuthard zugehen, um so «hoffentlich» zu einer Lösung und zu einem tauglichen Staatsvertrag zu kommen. Ziel sei es nach wie vor, die Frage vertraglich zu lösen.

Unmut im Bundestag
Unterdessen warten die Regierungsfraktionen im Bundestag die weitere Entwicklung ab. Fragt man bei der Union und den Liberalen nach, konstatiert man rasch, dass es doch einigen Unmut über das Verhalten der baden-württembergischen Landesgruppen gibt. Namentlich will allerdings niemand die störrischen Süddeutschen kritisieren. Das Gewicht der Baden-Württemberger ist tatsächlich erheblich, aus zwei Gründen. Zum einen «besitzen» sie gleichsam die Materie. Der Streit um den Lärm, den der Zürcher Flughafen verursacht, berührt keinen Sachsen und keinen Hessen. Beim Steuerabkommen ist das anders, Steuerflüchtlinge gibt es überall. Im Bundestag neigt man dazu, bei solchen regional gefärbten Themen die Meinung der «federführenden» Kollegen zu übernehmen.

Zum zweiten fällt der Staatsvertrag ohne die Stimmen der Baden-Württemberger im Bundestag schlicht durch. Das Vollzugsgesetz zum Staatsvertrag ist ein sogenanntes Einspruchsgesetz. Das bedeutet, dass der Bundestag den Bundesrat, die Länderkammer, überstimmen kann. Zusammen mit den Stimmen der Opposition können die baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten den Fluglärm-Staatsvertrag locker in den Orkus schicken.

Will Ramsauer keine Niederlage in der Legislative riskieren, muss er also einen hieb- und stichfesten Vertrag vorlegen. Ohne das Plazet der Fluglärmgegner und der baden-württembergischen Politiker geht das nicht. Die aber wissen um ihre Machtposition und werden sie zu nutzen wissen.

NZZ, 21.12.2012

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