In Süddeutschland wächst die Kritik am Fluglärm-Abkommen. Dabei war es die Schweiz, die einlenken musste, damit der Staatsvertrag überhaupt möglich wurde.
Fabian Fellmann
Am Freitag hat der Bundesrat den Fluglärm-Staatsvertrag mit Deutschland in die Vernehmlassung geschickt. Im Bericht dazu lobt er ihn als «gutes und ausgewogenes Verhandlungsresultat», das verglichen mit dem gescheiterten Staatsvertrag von 2001 eine «gleichwertige, eher vorteilhafte Lösung» darstelle - ein Seitenhieb an den damaligen Verkehrsminister Moritz Leuenberger.
Ganz anders tönt es in einem internen Bericht des deutschen Bundesverkehrsministeriums an den Verkehrsausschuss des Bundestags, der sich kommende Woche damit befassen soll. Demnach begannen die Verhandlungen gemächlich. In der ersten Runde am 2. März 2012 in Rüschlikon waren Lösungsansätze noch kein Thema. Es ging nur darum, wie man überhaupt verhandeln wollte, und beide Seiten bekräftigten ihren Willen, den Fluglärm-Streit gütlich beizulegen.
Sofort darauf begann die deutsche Seite ihr Powerplay. Sie entwarf einen Vertrag, den sie auch den Schweizern zustellte, allerdings ohne die wichtigen Zahlen. Das war die «Grundlage für die weiteren Verhandlungen», wie es in dem Bericht heisst. Die Botschaft war klar: Es wird nur über eine in Zahlen festgeschriebene Obergrenze für Anflüge über Süddeutschland verhandelt - was die Schweiz ablehnte. Diese verlangte, dass die Fluglärmmessungen eine entscheidende Rolle spielen.
«Deutliche Bewegung»
Am 27. März endete die zweite Verhandlungsrunde am Flughafen Frankfurt in einer Sackgasse. Danach «waren die Positionen der Verhandlungsdelegationen unvereinbar festgefahren», steht in dem Bericht. «Eine dritte Verhandlungsrunde fand erst nach einer deutlichen Bewegung auf Schweizer Seite am 14. Juni 2012 in Zürich statt.»
In der Schweiz beschreibt dies der Bundesrat in seiner Erklärung zum Staatsvertrag so: «Erst als die deutsche Seite den Ansatz akzeptierte, die Entlastung über anflugfreie Zeitfenster für Deutschland zu regeln, bestand Aussicht auf eine Einigung.» Mit anderen Worten: Die Schweiz hatte ihre Kernforderung von Fluglärmmessungen aufgegeben. Als Alternative schlug sie ausgedehnte Sperrzeiten über Süddeutschland vor, wie sie der Staatsvertrag jetzt auch vorsieht: Wochentags zwischen 18 und 6 Uhr 30 herrscht Ruhe im deutschen Luftraum. Falls der Vertrag auf beiden Seiten angenommen wird und er 2020 in Kraft tritt, müssen deswegen zusätzliche 17 Prozent der Anflüge über Schweizer Gebiet stattfinden - hauptsächlich über der Ostschweiz. Eine gut informierte Quelle bestätigt, dass die Schweizer in diesem Punkt eingeknickt seien. Allerdings erwecke Bundesrätin Doris Leuthard diesen Eindruck gezielt aus taktischen Gründen, damit der Vertrag in Deutschland akzeptiert wird.
Das wäre gar nicht nötig. Die süddeutschen Fluglärm-Gegner sind in Deutschland zunehmend isoliert. Sie bauen derzeit zwar Drohkulissen auf. Frank Hämmerle, Landrat von Konstanz, hat diese Woche sämtliche Amtsträger seines Landkreises aufgefordert, sich gegen den Staatsvertrag in der heutigen Form zu wehren. Und Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der sich anfänglich kompromissbereit zeigte, gerät von seiner grünen Parteibasis zunehmend unter Druck. «Kretschmann hat diese Woche von 31 Bürgermeistern aus den unterschiedlichsten Parteien zu spüren gekriegt, dass wir diesen Vertrag so, wie er jetzt ausgestaltet ist, ablehnen», sagt Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Landkreis Waldshut. Die markigen Worte können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Süddeutschen auf nationaler Ebene wenig Gehör finden. Das Bundesverkehrsministerium hat bisher ihre Forderung ignoriert, die Flugrouten müssten in einer Denkschrift zum Staatsvertrag festgeschrieben werden. Und selbst der Münchner Fluglärmgegner Toni Hofreiter, grüner Bundestagsabgeordneter aus Bayern und Präsident des Verkehrsausschusses, sagt: «Der Fluglärm-Staatsvertrag mit der Schweiz ist ein guter Kompromiss.» Angesichts solcher Voten gehen Beobachter davon aus, dass die wirtschaftsfreundliche bürgerliche Mehrheit im Bundestag dem Abkommen zustimmen wird.
Länderkammer ohne Vetorecht
Ein Ja wird auch von der zweiten Kammer, dem Bundesrat, erwartet, obwohl dort die mehrheitlich rot-grünen Ländervertreter dominieren, die bereits das Steuerabkommen mit der Schweiz zum Absturz bringen wollen. Der Fluglärm-Vertrag hingegen fällt in eine andere Kategorie: Sollte der Bundesrat wider Erwarten Nein sagen, könnte ihn der Bundestag überstimmen.
Osten muss bittere Pille schlucken
Offiziell sind die Gespräche über die Verteilung des Fluglärms in der Schweiz erstangelaufen. Aus dem Vernehmlassungsbericht des Bundesrats und deutschen Dokumenten geht die Stossrichtung jedoch klar hervor: Bis 6 Uhr 30 morgens sollen die Flugzeuge von Süden landen; der gekröpfte Nordanflug soll diese Route entlasten. Tagsüber werden die Jets Kloten wie bisher von Norden über Süddeutschland ansteuern. Ab 18 Uhr dürfte es den Osten treffen. Somit würde das Anflugregime normalerweise dreimal täglich geändert, was laut Fachleuten machbar ist. Unklar ist das Abflugregime. In der Regel soll nach Norden gestartet werden, also über Deutschland. Flughafennahe Kreise lobbyieren zudem für die Option «Straight 16», bei der die Jets über Schwamendingen aufsteigen.
Ob der Staatsvertrag in der Schweiz durchkommt, ist ungewiss. Diese Woche hat auch die SP Schweiz Widerstand angedroht, falls der Lärm nicht verteilt werde. «Die einseitige Mehrbelastung der Bevölkerung einer Region akzeptieren wir nicht», sagt die Thurgauer SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher. (ffe.)
NZZ am Sonntag, 23.09.2012, Seite 12