Von Fabian Renz, Bern
Ohne die Hilfe der Sozialdemokraten darf Verkehrsministerin Doris Leuthard kaum darauf hoffen, dass sich im Parlament eine Mehrheit für den neuen Staatsvertrag mit Deutschland findet. Umso mehr muss der CVP-Bundesrätin das Papier zu denken geben, das die Bundeshausfraktion der SP nach ihrer gestrigen Sitzung in Umlauf brachte.
Das Vertragswerk, das den schweizerisch-deutschen Fluglärmstreit beilegen soll, enthalte «gravierende Mängel», heisst es in der Stellungnahme. Die Schweiz werde gegenüber heute mit zweieinhalb Lärmstunden pro Tag mehr belastet – was in der Summe 20 000 zusätzlichen Anflügen entspreche. Erst recht sei der Vertrag schlechter als der unter Leuthards Vorgänger Moritz Leuenberger (SP) ausgehandelte Entwurf (der 2002 vom Parlament abgelehnt wurde): Im Vergleich bringe Leuthards Variante täglich viereinhalb Lärmstunden mehr. Und der vom neuen Abkommen erlaubte gekröpfte Nordanflug stelle für die Schweiz ein «sicherheitsrelevantes Grossrisiko» dar, da die Route über mehrere Atomanlagen führe.
Erarbeitet wurde das Papier von den SP-Verkehrspolitikern unter Federführung der Thurgauer Nationalrätin Edith Graf-Litscher. Sie listen eine Reihe von Vorbedingungen auf, die Leuthard für ein sozialdemokratisches Ja zum Vertrag erfüllen müsse. Insbesondere werde keine «einseitige Mehrbelastung der Bevölkerung einer Region» akzeptiert. Derzeit «steht in den Sternen», wie der von Leuthard angekündigte «faire Lastenausgleich» aussehen solle.
Leuthard habe in ihrer Botschaft an das Parlament zu verschiedenen offenen Fragen Klarheit zu schaffen, fordert die SP weiter. Aufzuzeigen seien die Mitsprachemöglichkeiten des Volkes und der Kantone, überdies die künftige Kompetenzregelung zwischen Skyguide (die Gesellschaft, die den Schweizer Luftraum überwacht) und der deutschen Flugsicherung. Auch müsse die Botschaft Anflugkonzepte mit und ohne Pistenausbau enthalten. Und eine unabhängige Institution sei damit zu beauftragen, die Atomrisikoproblematik beim gekröpften Nordanflug zu untersuchen.
Ob die SP dem Staatsvertrag am Ende zustimme, sei derzeit völlig offen, sagt Graf-Litscher. Allerdings hat die SP schon mehrmals damit gedroht, Staatsverträge zum Absturz zu bringen. Dass sie konsequent bis zum Äussersten gehen würde, muss sie erst noch zeigen.
Der Zürcher Regierungsrat Ernst Stocker (SVP) und Vertreter der Flughafen Zürich AG haben gestern 30 Gemeindevertreter über den Vertrag informiert. Diese kritisierten, dass der Bund nur eine einmonatige Frist für Stellungnahmen gewähre. Streitpunkte waren Pistenverlängerung und Lärmverteilung.
Tages-Anzeiger, 19.09.2012, Seite 15