Die Schweiz ist im Fluglärmstreit mit Deutschland in der Defensive. Einem unausgewogenen Staatsvertrag dürfe aber nicht aus Angst vor einseitigen Verschärfungen zugestimmt werden, sagt der FDP-Nationalrat Filippo Leutenegger.
Andreas Schürer
Der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer zeigte sich am WEF in Davos geschmeidig. «Liebe Doris», korrigierte er die Bundesrätin Leuthard, als diese vom Fluglärmstreit sprach, «wir streiten doch nicht.»
Diese Szene symbolisiert: Die Schweiz ist in einer schwachen Position, das Gefälle ist gross. Ramsauer hat den Trumpf in der Hinterhand, dass er die heute schon erlassenen Anflugbeschränkungen weiter einseitig verschärfen kann. Angenehmer wäre ihm zwar, mit der «lieben Doris» einen Staatsvertrag abzuschliessen. Denn er sei keiner, der immer gleich mit der Waffe drohe, sagte er der «NZZ am Sonntag».
Konfliktfall aushalten
Bei Schweizer Parlamentariern, die einen Staatsvertrag ratifizieren müssten, kommt das schlecht an. Der Zürcher FDP-Nationalrat Filippo Leutenegger, der den parlamentarischen Arbeitskreis Flugverkehr präsidiert, sagt: «Wenn der Staatsvertrag fast nur Konzessionen der Schweiz enthält, werden wir ihn nicht akzeptieren.» Leutenegger gibt sich kämpferisch: «Wir lassen uns Verschärfungen lieber einseitig diktieren, als dass wir einem unfairen Staatsvertrag zustimmen.» Denn es könne nicht sein, dass die Schweizer Hose und Unterhose ausziehen müssten und im Gegenzug nicht einmal ein Hemd erhielten. Die Schweiz als Kleinstaat müsse hartnäckig verhandeln und notfalls auch einmal einen offenen Konflikt aushalten. Schnelle Kompromisse wie beim Doppelbesteuerungsabkommen führten dazu, dass die Schweiz mit zusätzlichen Forderungen konfrontiert werde.
Besonders sauer stösst Leutenegger auf, dass in der vor einer Woche von Leuthard und Ramsauer in Davos unterzeichneten Absichtserklärung zur Lösung des Konflikts nur von einer Reduktion der Flugbewegungen über Süddeutschland die Rede ist – und nicht auch von der Gesamtlärmbelastung der Bevölkerung. Einen Vertrag ohne verbindliche Berücksichtigung des Lärms, zum Beispiel nach dem Vorbild des Zürcher Fluglärmindexes (ZFI), würden viele Parlamentarier aus den vom Flughafen betroffenen Kantonen nicht ratifizieren, sagt Leutenegger. Honoriert werden müsse auch der technologische Fortschritt – beispielsweise der Einsatz von modernen GPS-Anflugverfahren, dank denen die Flugrouten exakter an Wohngebieten vorbeigeführt werden könnten. Leutenegger sagt: «Man kann nicht über Lärm klagen – und ihn dann nicht berücksichtigen, wenn er reduziert wird.» Am Übel, dass Flugbewegungen wie Erbsen gezählt würden und nicht die Lärmbelastung der Bevölkerung einbezogen worden sei, habe auch der 2002 gescheiterte Staatsvertrag von Moritz Leuenberger gekrankt. Dynamische Elemente müssten von Anfang an im Staatsvertrag enthalten sein, findet Leutenegger – «sonst ist er eine Fehlkonstruktion».
Im Arbeitskreis Flugverkehr sind rund 20 Parlamentarier. Ziel ist, einen Minimalkonsens der vom Flughafen am stärksten betroffenen Kantone zu formulieren. Der Schaffhauser SVP-Nationalrat Thomas Hurter sagt: «Alle müssen Zugeständnisse machen.» Von der Absichtserklärung ist er enttäuscht – «von einem Entgegenkommen Deutschlands ist keine Rede». Wie schwierig es ist, einen Konsens zu erreichen, zeigt sich im Arbeitskreis Flugverkehr selbst. Die Thurgauer SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher machte «vor allem die Aussage Leuthards stutzig, dass bevölkerungsreiche Regionen wie der Süden entlastet werden sollten». Für Graf-Litscher braucht es aber «eine gerechte Verteilung des Lärms in alle vier Himmelsrichtungen» – eine Position, die der Zürcher Regierung und dem Zürcher Stimmvolk, das die Verteilungs-Initiative klar abgelehnt hat, entgegensteht. In den Verhandlungen mit Deutschland spricht sich Graf-Litscher auch für eine harte Haltung aus: «Man muss das Dossier Verkehrspolitik gesamtheitlich anschauen. Es gibt durchaus Themen, die man verknüpfen kann, zum Beispiel die Neat-Anschlüsse.»
Resolution der Süddeutschen
Keinen Spielraum für solche Pakete oder für ZFI-ähnliche Modelle sieht der Waldshuter Landrat Tilman Bollacher (CDU). Er betont, dass in der Schweiz die Stuttgarter Erklärung, die eine Beschränkung der Nordanflüge auf 80\'000 jährlich und die Beibehaltung der Beschränkungen in den Tagesrandstunden verlangt, falsch verstanden werde: «Das ist keine Forderung, das ist das maximale Kompromissangebot.» Die Schweizer Politik habe die Süddeutschen jahrzehntelang belächelt und kritische Stimmen als Eiferer abgetan – das funktioniere nun nicht mehr.
Am Montag wird Bollacher zusammen mit dem Landtagspräsidenten Guido Wolf, dem Landrat Karl Heim und dem Donaueschinger Oberbürgermeister Thorsten Frei eine entsprechende Resolution verabschieden. Diese soll, sagt Bollacher, «Verkehrsminister Ramsauer den Rücken stärken».
Leuthard in Stuttgart
Eine Woche nachdem Bundesrätin Doris Leuthard mit dem deutschen Verkehrsminister Peter Ramsauer die Fluglärmabsichtserklärung unterzeichnet hatte, hat sie am Freitag Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, besucht. Dieser gab in einer Mitteilung nach dem Treffen in Stuttgart seiner Verärgerung Ausdruck, dass er von der Absichtserklärung aus der Zeitung erfahren habe: «Ramsauer hätte uns informieren müssen.»
Die vage formulierte Absichtserklärung sieht unter anderem eine Reduktion der Zahl der Nordanflüge, mehr Flexibilität des Flugregimes und stärkere Mitwirkungsrechte für die deutsche Bevölkerung vor. Leuthard betonte gemäss einer Mitteilung ihres Pressedienstes gegenüber Kretschmann, dass eine ausgewogene Lösung eine Kombination von reduzierten Nordanflügen und Flexibilität bei den Betriebszeiten am Flughafen Zürich erfordere. Nun gehe es darum, die vereinbarten Grundzüge zu konkretisieren und für beide Seiten eine tragbare Regelung zu finden.
Kretschmann seinerseits verlangt, dass Baden-Württemberg an den Verhandlungen zum Staatsvertrag beteiligt werde. Inhaltlich stehe die rot-grüne Landesregierung weiterhin hinter der «Stuttgarter Erklärung», die eine Reduktion der Nordanflüge auf 80\'000 jährlich – und aber auch eine Beibehaltung der heutigen Anflugsperren in den Tagesrandstunden fordert. Kretschmann gibt sich hingegen auch versöhnlich: «Wir wollen, dass der Streit beigelegt wird.»
Im Bereich der Verkehrspolitik besprachen Leuthard und Kretschmann den Ausbau der Schienenwege zwischen Deutschland und der Schweiz. Für Kretschmann hat die Rheintalbahn hohe Priorität. Auch der Ausbau des Neat-Zubringers, der Gäubahn, sei für eine schnelle Verbindung zwischen Stuttgart und Zürich zwingend erforderlich. Der erste Ausbauschritt zwischen Horb und Neckarhausen sei in Planung.