Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz war in den vergangenen Jahren nicht besonders gut. Dafür verantwortlich war auch der Streit über die Lärmbelastung durch den Flughafen Zürich. Franz Schmider sprach darüber mit der Schweizer Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey.
BZ: Vor wenigen Jahren noch gab es in Schweizer Zeitungen noch Schlagzeilen wie "Neuer Ärger mit den Deutschen". Solche Sätze lesen wir nicht mehr. Hat sich die Situation entspannt?
Calmy-Rey: Deutschland ist einer unserer wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner. Berlin hat uns beispielsweise in der Libyenkrise geholfen. Baden-Württemberg ist wirtschaftlich bedeutender für die Schweiz als die USA. Die Nachbarschaft und die Beziehungen sind sehr eng und intensiv. Und da gibt es auch einmal Probleme, zum Beispiel im Steuerbereich. Aber die Schweiz hat 2009 die Standards der OECD übernommen und in zahlreichen Doppelbesteuerungsabkommen umgesetzt, auch mit Deutschland. Jetzt verhandeln wir sehr konstruktiv über ein Abkommen zur Einführung einer Abgeltungssteuer.
BZ: Dieses Abkommen soll regeln, wie in der Schweiz liegende deutsche Vermögen und deren Erträge besteuert werden. Hakt es an einer Art Steueramnesty?
Calmy-Rey: Es geht nicht nur um die Regularisierung von Altgeld, es geht auch um eine Abgeltungssteuer für die Zukunft, um eine Art Quellensteuer mit abgeltendem Charakter auf Kapitaleinkünfte. Ich sitze nicht mit am Verhandlungstisch, aber ich weiß, dass dort sehr konstruktiv gearbeitet wird. Wir wollen eine umfassende Lösung. Wir hoffen, noch in diesem Jahr.
BZ: Noch einmal zurück: Ist das Verhältnis besser oder sind nur die negativen Schlagzeilen verschwunden?
Calmy-Rey: Ich glaube wirklich, dass sich die Stimmung geändert hat.
BZ: Sie haben erwähnt, dass Deutschland ihnen in der Libyenkrise geholfen hat. Damals wurden zwei Schweizer Staatsbürger in Libyen festgehalten als Geiseln. Worin bestand diese Hilfe? Seinerzeit musste man eher den Eindruck haben, Europa lasse die Schweiz allein.
Calmy-Rey: Das war nicht der Fall. Europa hat uns vielmehr sehr unterstützt. Dies auch aus eigenen Interessen, weil die EU Schwierigkeiten hatte mit unserer Strategie der Visarestriktionen gegenüber Libyen. Die EU hat sich für eine Lösung eingesetzt, besonders Deutschland und Spanien. Und am Ende haben wir die beiden Schweizer Bürger frei bekommen. Ich bin sehr dankbar für die Hilfe aus Deutschland, die wir damals erfahren haben.
BZ: Aber es gibt noch immer Ärger um den Flughafen Zürich.
Calmy-Rey: Wir haben uns mit Kanzlerin Merkel darauf verständigt, dass wir ein Lärmgutachten erstellen lassen. Auf der Basis der Ergebnisse dieses rein sachlichen Gutachtens soll nun nach Lösungen gesucht werden. Das Gutachten liegt seit 2009 vor und zeigt, dass der größte Teil des Lärms die Schweizer Seite belastet. Das heißt, dass in Zürich und den dicht bebauten Randgebieten die Lärmbelastung erstens höher ist und zweitens sehr viel mehr Menschen vom Lärm des Flughafens betroffen sind als etwa auf deutscher Seite. Wir schlagen vor, dass die faktisch bestehende Lärmbelastung zur Grundlage der weiteren Überlegungen werden sollte und nicht die Zahl der Flugbewegungen. Die Zahl der Überflüge allein sagt noch nichts über die Lärmbelastung aus. Eine vernünftige Lösung müsste darin liegen, dass möglichst wenig Menschen vom Lärm betroffen sind, unabhängig ob Deutsche oder Schweizer.
BZ: Aber wie soll es da eine Verständigung geben? In Deutschland ist die Zahl der Überflüge der Maßstab.
Calmy-Rey: Wir müssen verstehen, dass beide Seiten – auch Deutschland – ein Interesse daran haben, eine Lösung zu finden. Denn der Zürcher Flughafen ist eine wichtige Infrastruktur, die beiden Seiten nutzt, ein Standortfaktor auch für die süddeutsche Wirtschaft. Von hier aus fliegen doch nicht nur Schweizer. Zürich ist doch auch ein Flughafen für viele Baden-Württemberger. Die Entwicklung des Flughafens ist in unserem beidseitigen Interesse. Wenn wir vernünftig sind, denken wir an das Wohl der Menschen beidseits der Grenzen. Es kann aber nicht sein, dass einzelne Einwohner im Raum Waldshut die deutsche Politik und die Entwicklung der Schweiz bestimmen. Wir müssen eine Lösung finden und die heißt: so wenig Lärm wie möglich für so wenige Menschen wie möglich. Das ist eine vernünftige Lösung. Und jetzt müssen wir uns zusammensetzen und reden, wir sprechen schließlich die gleiche Sprache.
BZ: Seit Einführung der Freizügigkeit ist der Zustrom von Arbeitskräften in die Schweiz enorm gestiegen, allein 260 000 Deutsche leben in der Schweiz. Wie viele Zuwanderer kann das Land vertragen?
Calmy-Rey: Die Schweiz ist inzwischen das beliebteste Auswanderungsland der Deutschen, noch vor den USA. Die Deutschen haben den deutlich höchstens Anteil an der jährlichen Zuwanderung in die Schweiz. Es kommen jährlich netto 17\'000. Und sie sind zur zweitgrößten Ausländergruppe in der Schweiz angewachsen. Aber man darf die Frage nicht auf die Deutschen reduzieren. Seit Einführung der Personenfreizügigkeit haben wir in der Tat eine starke Zuwanderung, die auch während der Wirtschaftskrise angehalten hat. Und vergessen Sie die 200\'000 Grenzgänger nicht, die jeden Tag zur Arbeit in die Schweiz kommen. Aus Deutschland sind es 57\'000. Aber ich erinnere daran: Das Schweizer Volk hat 2000 für die Personenfreizügigkeit gestimmt und das Abkommen 2005 und 2009 in weiteren Abstimmungen deutlich bestätigt. Wir sind also ein offenes Land. Wir wissen, dass wir die Arbeitskräfte brauchen. Aber es ist auch klar, dass diese Arbeitskräfte hier zu den gleichen Bedingungen arbeiten sollen, zu denen die Schweizer arbeiten. Wir haben also eine Reihe von Begleitmaßnahmen beschlossen, die das sicherstellen sollen. Nun wurde ein Bericht vorgelegt der zeigt, dass in 40 Prozent der kontrollierten Fälle Verstöße gegen diese Bestimmungen festgestellt wurden, vor allem sind das Fälle von Lohndumping. Wir sagen: So geht es nicht. Wir wollen die Regeln durchsetzen und wenn nötig müssen wir da verstärkt kontrollieren. Das ist ein ernstes Problem, denn es darf auf dem Arbeitsmarkt keine Verdrängungen dadurch geben, dass jemand zum Beispiel unter Tarif beschäftigt wird.
BZ: Das Land ist wirtschaftlich extrem erfolgreich. Wird dieser Erfolg vom Segen zum Fluch?
Calmy-Rey: Der Wohnraum wird knapp und teuer, überall wird es eng und voll, in den Schulen, auf den Straßen, im öffentlichen Nahverkehr. Die Einheimischen beginnen, das eher als Problem zu sehen denn als Chance. Sie vergessen, dass wirtschaftlicher Erfolg und Wachstum in der Schweiz ohne ausländische Arbeitskräfte nicht möglich wären. Da entstehen Spannungen und da müssen wir aufpassen. Unsere Attraktivität ist zwar grundsätzlich positiv, sie kann aber auch Probleme mit sich bringen.
BZ: Woran liegt es?
Calmy-Rey: Ich denke, wir sind ein hervorragend verwaltetes Land. Die Regierung besteht mehrheitlich aus Frauen...(lacht). Nein im Ernst. Ein ganz großer Vorteil ist unser politisches System. Das ist zum einen der starke Föderalismus, dass wir also Maßnahmen dort entscheiden, wo sie hingehören. Das bedeutet klare Verantwortlichkeit. Und dann entscheiden dank der direktdemokratischen Instrumente, dem Referendum und der Initiative, die, die am Ende auch die Folgen der Entscheide zu tragen haben. Das sorgt auch für mehr Verantwortung im politischen Handeln.
BZ: In der Schweiz wird darüber gesprochen, die Hürden für Personenverkehr zu erhöhen, Dänemark will die Schengen-Regeln einschränken. Gibt es in Europa verstärkte Abschottungstendenzen?
Calmy-Rey: Der Eindruck täuscht nicht, es gibt diese Tendenz, auch in der Schweiz. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Menschen verunsichert und viele Menschen zu dem Schluss geführt, dass alles, was von draußen kommt, etwas Schlechtes ist. Und es sind ja auch die Steuerzahler, die für die Rettung der Großbanken und die Stützungspakete für die Wirtschaft bezahlen müssen, die die Krise ausbaden müssen. Darum die Tendenz zu sagen: Bleiben wir lieber unter uns, dann ist es besser. Diese Tendenz gibt es in ganz Europa.
BZ: Was muss man in Europa tun, um dieser Tendenz zu begegnen?
Calmy-Rey: Man muss die Probleme lösen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist noch nicht bewältigt. Und was die Schweiz betrifft: Wir haben 70 Prozent unserer Währungsreserven in Euro, wir sind solidarisch, wir haben ein eigenes Interesse an einem stabilen Wechselkurs und daran, dass zwischen Euro und Franken keine allzu große Differenz entsteht.
BZ: Als der spanische König in Bern zu Besuch war, hat er die Schweiz aufgefordert, sich stärker in Europa einzubringen. Was haben Sie ihm da geantwortet?
Calmy-Rey: Dass wir das schon jetzt machen. Wir haben 120 bilaterale Abkommen mit der EU. Wir haben bisher mehr als 1,2 Milliarden Franken für den Abbau der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in den neuen EU-Mitgliedsländern in Osteuropa aufgebracht, wir helfen den Nicht-EU-Staaten in Osteuropa, wir bauen gerade die Neat, die Neue Eisenbahn-Alpentransversale, durch die Alpen, was uns viele Milliarden kostet. Wir machen das nicht nur für uns, wir bauen für die Verbindung zwischen Nord- und Südeuropa. Wir müssen dazu kein EU-Mitgliedstaat sein.
BZ: Die Schweiz baut die Neat, der Ausbau der Zulaufstrecke in Südbaden hinkt hinter dem Zeitplan her. Könnte der Gotthardtunnel eine Fehlinvestition werden?
Calmy-Rey: Ich glaube, die Deutschen werden ihre Infrastruktur ausbauen. Sie haben ein eigenes Interesse daran, da bin ich sehr zuversichtlich. Das Projekt ist wichtig für ganz Europa, da habe ich keine Sorge.
BZ: Sie haben erwähnt, dass Baden-Württemberg wirtschaftlich der wichtigste Partner ist. Haben Sie einen Wunsch an die neue Landesregierung?
Calmy-Rey: Ja, dass sie konstruktiv mit uns zusammenarbeitet und Lösungen für die gemeinsamen Probleme sucht. Wir haben auch bereits einen Termin für ein Treffen mit dem Ministerpräsidenten nach der Sommerpause.
BZ: Parteipolitisch sollte es für Sie einfacher werden.
Calmy-Rey: Ja, manchmal erleichtert so etwas die Gespräche. Wenn man die selben Ideen hat, dann geht es schneller voran mit dem gegenseitigen Verständnis.
BZ: Aus der Atomkraft auszusteigen?
Calmy-Rey: Ja, zum Beispiel. Es erleichtert einfach die Diskussion.