Von Andreas Frey
Der blank geputzte Himmel war nur ein schwacher Trost. Viele der Abertausende gestrandeter Flugpassagiere hätten den Hinweis auf ein reines Azur wohl eher als Hohn empfunden. Wer aber in der vergangenen Woche ohnehin am Boden geblieben wäre, der erfreute sich vielleicht an dem über Mitteleuropa selten gewordenen Bild eines durch und durch wolkenlosen Himmels ohne Kondensstreifen. Mancher könnte sich dabei eine naheliegende Frage gestellt haben, welche die Wissenschaft gleichwohl bisher nicht hat beantworten können: War es in diesen Tagen denn wärmer, als es mit Streifen gewesen wäre? Immerhin konnte die Sonne ja ungetrübt scheinen. Welchen Einfluss nehmen Kondensstreifen auf unser Wetter? Und wie wirken sie sich weltweit auf das Klima aus? Tatsächlich ist ihr Einfluss deutlich größer als bisher gedacht.
Die Vermutung hegte bereits der Amerikaner David J. Travis an einem Tag, an dem schon einmal alle Flugzeuge über einem Kontinent verschwunden waren. Am 11. September 2001 war der Geograph von der Universität Wisconsin in Whitewater genauso schockiert über die Anschläge in New York und Washington wie der Rest der Welt. Zugleich erkannte er aber darin eine einmalige Möglichkeit, seine Forschungsarbeiten über Kondensstreifen voranzutreiben. In den Tagen, in denen Amerika innehielt, muss in Whitewater reges Treiben geherrscht haben. Jede Stunde, in der die Flieger am Boden blieben, bedeutete wertvolle Zeit für sein Team. Insgesamt dauerte das Flugverbot drei Tage. Erst dann schloss sich das kurze Zeitfenster ohne Kondensstreifen am Himmel wieder.
Fast ein Jahr später legte Travis in Nature verblüffende Ergebnisse vor. Aufgrund der fehlenden zarten Streifen am Himmel habe sich im Zeitraum vom 11. bis 14. September 2001 tagsüber die Luft am Boden stärker erwärmt und nachts stärker abgekühlt. Ein Grad Erhöhung in der Differenz habe dies amerikaweit ausgemacht, behauptete er und bezeichnete dies als "anomalen Anstieg im durchschnittlichen Tagesgang der Temperatur". Die Differenz ergibt sich, wenn man den Tagestiefstwert einer Wetterstation vom Tageshöchstwert abzieht. Doch wie will man einen Tag ohne Kondensstreifen mit einem Tag mit Kondensstreifen vergleichen? Schließlich kann man mit dem Wetter keinen Doppelblindtest durchführen. Travis blieb daher keine andere Wahl, als die Statistik zu bemühen. Das dichte Wetterstationsnetz der Vereinigten Staaten liefert eine Fülle an Daten. Für die meisten Orte existieren Erfahrungswerte, die er sich zunutze machte. So kombinierte er typische Temperaturmessungen, hochaufgelöste Satellitenfotos und Vorhersageanalysen und schätzte, wo sich Kondensstreifen hätten bilden können, wenn denn Flieger am Himmel gewesen wären. Dann verglich er die dreitägige Periode vor den Terrorangriffen und der Flugverbotsphase danach und erhielt eine Abweichung von 1,8 Grad.
So erstaunlich diese Ergebnisse sind, so umstritten sind sie. Der Bericht des Weltklimarates der Vereinten Nationen (IPCC) von 2007 bezeichnet die Travis-Studie als dürftig, weil sie eher auf Korrelationen basiere und weniger auf einem mathematischen Modell, das Aussagen zu den kausalen Zusammenhängen macht. Außerdem beruhe sie aufgrund des kurzen Flugverbots nur auf einem recht kleinen Satz an Messwerten.
Für Robert Sausen, der den Bericht zum Luftverkehr im Weltklimarat IPCC verantwortet, handelt es sich bei Travis\' Resultat vermutlich um ein statistisches Artefakt. Der Physiker am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, welche Wirkung die Streifen entfalten. "Schwankungen der Temperatur in der dort gefundenen Größenordnung treten wegen des turbulenten Verhaltens der Atmosphäre auch natürlich auf", sagt er. Der Zeitraum von wenigen Tagen sei zu klein, um eine signifikante Änderung des Wetters oder Klimas zu erwarten. Das gelte auch für das Flugverbot der vergangenen Woche.
Es hat also nichts mit der jüngsten Pause am Himmel zu tun, dass es in der Frage nun Neuigkeiten gibt. Sie stammen von Robert Sausen selbst. Zusammen mit seinen Kollegen hat er die sogenannten Cirren, die auch als Schleier- oder Federwolken bezeichnet werden und aus Eis bestehen, genauer unter die Lupe genommen. Das Problem war bisher, dass sich natürliche Cirren von den künstlichen, durch Flugzeuge erzeugten nur schwer unterscheiden. Dass Düsenjets in großen Höhen nicht nur Kondensstreifen auslösen, sondern auch die Bildung von Cirren anregen, ist seit längerem bekannt. Allerdings muss dafür die Wetterlage stimmen. Einig sind sich die Klimaforscher auch in der generellen Wirkung dieser Schleierwolken: Sie lassen Sonnenlicht durch, blockieren aber die Rückstrahlung von der Erdoberfläche. Damit erwärmen sie die Erde und tragen somit zum anthropogenen Treibhauseffekt bei. Die Frage war bisher nur, wie stark sie das tun.
Robert Sausen glaubt, sie nun beantworten zu können. "Der Effekt, den Flugzeuge auf Cirren ausüben, ist insgesamt etwa dreimal so groß wie der Effekt der linearen Kondensstreifen", sagt er. Demnach wären es also weniger die Kondensstreifen selbst, die das Klima erwärmen, sondern vor allem die von den Fliegern angeregten Schleierwolken. Behalten Sausen und seine Mitarbeiter damit recht, so hieße das, dass Wolken, die erst durch Flugzeuge entstehen, eine nicht zu vernachlässigende Wirkung auf das Klima haben: Der Effekt sei, so sagt Sausen, etwa so groß wie der gesamte CO2-Ausstoß von Flugzeugen.
Um die Kondensstreifen und die Cirren analysieren zu können, musste man erst einmal verstehen, wie sie entstehen. Kalt muss es dazu sein und noch dazu feucht. Dort, wo Flugzeuge für gewöhnlich verkehren, nämlich in zehn bis zwölf Kilometer Höhe, ist es sogar sehr kalt - Temperaturen unter minus 40 Grad sind die Regel. Durch diese lebensfeindlichen Sphären rast der Flieger mit bis zu 900 Kilometern pro Stunde und vermengt dabei die eiskalte Luft mit den heißen Abgasen seiner Strahlturbinen. In einem gewöhnlichen Triebwerk eines Verkehrsflugzeugs verbrennen Kerosin und Sauerstoff zu Kohlendioxid und Wasserdampf. Daneben entstehen auch geringe Mengen Stickoxid, Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid und Ruß. Nach der Verbrennung gefriert der heiße Wasserdampf in weniger als einer Sekunde. Gleichzeitig passiert aber noch etwas anderes: Die großen Druckunterschiede entlang der Tragflächen führen zu einem gegenläufigen Wirbel, der die entstehenden Eisteilchen und Schmutzpartikel in sich hineinsaugt. An diesen sogenannten Kondensationskernen fällt nun der Wasserdampf aus - der Kondensstreifen wird sichtbar. Er setzt meist erst wenige Meter hinter dem Flugzeug ein und ist Minuten bis Stunden zu sehen. Die ersten zwei bis vier Minuten nach der Entstehung des Streifens ist die Verwirbelung noch so stark, dass er als abgeschlossenes System ohne Austausch mit der Umgebungsluft bleibt.
Wie lange ein Kondensstreifen überdauert, hängt von mehreren Faktoren ab. Normalerweise sinkt er pro Sekunde ein bis zwei Meter ab, kommt schließlich in minimal wärmere Luftschichten und verliert dort immer mehr seiner sichtbaren Eisteilchen. Zudem beginnen seitliche Winde die linienförmige Wolke der Kondensstreifen in der Regel nach einigen Minuten immer mehr zu zerrupfen. In dieser Phase ist der gealterte Streifen rein äußerlich nicht mehr von den natürlichen Cirren zu unterscheiden, die sich - im Gegensatz zu den künstlichen - erst in stark übersättigter Luft bilden. Sausens Team hat nun die Wirkung solcher zu Cirren zerfallener Kondensstreifen auf den Wärmehaushalt der Atmosphäre durch Computersimulationen berechnet. Das Resultat überprüfte er anschließend mit einem anderen Klimamodell und bekam auf beiden Wegen dasselbe Ergebnis heraus. Wie er das genau gemacht hat, beschreibt er in einem Fachartikel, den er gerade vorbereitet und der in drei Monaten erscheinen soll.
Da Sausen als weltweit führender Experte auf diesem Gebiet gilt, dürfte seine Veröffentlichung den Flugverkehr wieder etwas näher in das Zentrum der Klimadebatte rücken, die gegenwärtig noch sehr auf die Energiegewinnung und den Autoverkehr fokussiert ist. Dabei sind derzeit allein die Treibhausgase aus den Flugzeugtriebwerken für 3,5 Prozent des menschengemachten Anteils an der globalen Erwärmung verantwortlich. Wie groß dieser Anteil ist, wenn man auch die Flugzeug-Cirren berücksichtigt, darüber gab es bislang nur - heiß umstrittene - Mutmaßungen. Sausens Berechnungen liefern nun erstmals klare Zahlen: Demnach beträgt der Anteil des Flugverkehrs am anthropogenen Klimawandel nicht 3,5, sondern 4,9 Prozent.
Doch wie lange bleibt diese Zahl aktuell? Immerhin verzeichnet die Flugbranche starke Zuwächse. Weltweit hat der Flugverkehr von 2000 bis 2007 um mehr als fünf Prozent pro Jahr zugenommen. Das wirft die Frage nach neuen, klimafreundlichen Flugantrieben auf. In der Branche ist Wasserstoff ein Hoffnungsträger. Bei einem Umrüsten von Kerosin auf flüssigen Wasserstoff würden keine Schmutzpartikel und auch keine Kohlendioxid-Emissionen mehr entstehen. Dafür würden die Triebwerke allerdings deutlich mehr Wasserdampf in die Atmosphäre pusten - und damit wahrscheinlich wieder mehr Kondensstreifen bilden. Was unterm Strich also herauskommt, ist aus heutiger Sicht schwierig zu sagen.
Sicher ist derzeit nur, dass noch viel Arbeit vor den Klimaforschern liegt. "Wir müssen uns noch intensiver um die Darstellung von Eiswolken in Klimamodellen kümmern, um die Prozesse noch detaillierter und zuverlässiger zu simulieren", sagt Sausen. Ob aber die großen Airlines überhaupt wissen wollen, wie schädlich ihre erzeugten Wolken sind? "Hierüber stelle ich keine Spekulation an", sagt er. "Als Wissenschaftler lasse ich mich da ohnehin nicht unter Druck setzen." Begeistert werden sie aber mit Sicherheit nicht sein.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.04.2010, Nr. 16, Seite 59