Weniger Flüge statt mehr: Waldshut heizt den Fluglärmstreit an (TA)

Publiziert von VFSNinfo am
Obwohl der Fluglärm in Süddeutschland keine Grenzwerte überschreitet, will der Waldshuter Landrat die Flugbewegungen weiter beschränken.

Von Liliane Minor

Als Deutschland und die Schweiz Ende Oktober die Ergebnisse der gemeinsamen Fluglärmmessungen präsentierten, war die Erleichterung in der Schweiz gross. Denn die Messungen zeigen klar, dass der Lärm in Süddeutschland keine Grenzwerte übersteigt. Die Reaktionen in der Schweiz waren einhellig wie selten in der Fluglärmfrage: Nun müssten die deutschen Sperrzeiten fallen.

«Sicher nicht - im Gegenteil», sagt der Waldshuter Landrat Tilman Bollacher. «Die Anflüge über Süddeutschland sind belastend bis zur Gesundheitsschädigung.» Er will in Berlin sogar weitere Einschränkungen verlangen, wie er gestern den Medien erklärte. Insbesondere bei den Sperrzeiten gebe es keinerlei Spielraum, um der Schweiz entgegenzukommen, so der Chef des Landkreises Waldshut. «Wir sind aber bereit, höchstens 80 000 Anflüge zu übernehmen - sofern die Schweiz nachweist, dass dies für den Flughafen betriebstechnisch notwendig ist.»

Fluglärm besonders störend

Dass der Fluglärm über Süddeutschland keine Grenzwerte überschreitet, ist für Bollacher kein Argument: «Der Fluglärm ist deshalb nicht einfach unerheblich. Auch nach Schweizer Recht nicht.»

Bollacher stützt sich auf ein wissenschaftliches Gutachten des Schallschutzexperten Dietrich Kühner und des Lärmmediziners Peter Lercher. Die beiden Fachleute analysieren darin die Resultate der Fluglärmmessungen aus physikalischer und medizinischer Sicht. Dieses Gutachten kommt zu folgenden Schlüssen:

  • Die Fluglärmmessungen erfassen die tatsächliche Situation nur unzureichend. Faktisch müsse die Belastung um bis zu 5 Dezibel nach oben korrigiert werden, so die Experten. Grund: Fluglärm ist nicht monoton, sondern weist starke Schwankungen in Pegel und Tonhöhe auf, weshalb dieser Lärm - ähnlich einem Martinshorn - auffallender ist als andere Arten von Lärm.
  • Der alltägliche Hintergrundlärm ist in ländlichen Gebieten mit 20 bis 30 Dezibel sehr niedrig. Deshalb hätten Anflüge eine besonders hohe Störwirkung.
  • Der gemeinsame Fluglärmbericht basiert auf dem deutschen Fluglärmgesetz. Dieses sei auf Ballungsräume ausgelegt und für die Anwendung in ruhigen ländlichen Gebieten ungeeignet. Vielmehr müsse die so genannte Umgebungslärm-Richtlinie der EU massgebend sein. Danach wäre Lärm über 40 Dezibel unzulässig.

«Berlin wird auf uns hören»

Auch wenn die neue deutsche Regierung versichert hat, mit der Schweiz ein freundschaftlicheres Verhältnis zu pflegen als in letzter Zeit, ist sich Bollacher sicher, dass seine Argumente in Berlin Gewicht haben. Denn seine Forderungen werden von Dutzenden von südbadischen Politikern unterstützt: «Kein deutscher Minister wird irgendetwas über die Köpfe von Baden-Württemberg hinweg entscheiden.»


«Bollacher hat nichts mehr zu sagen»

Im Kanton Zürich haben Tilman Bollachers Forderungen gestern für Kopfschütteln gesorgt. Am ehesten Verständnis hatte noch Thomas Morf, Präsident des Vereins Flugschneise Süd Nein. Grundsätzlich teile er die Haltung, dass auch Lärm unter dem Grenzwert erheblich sei. «Aber Bollacher lässt das Augenmass vermissen, wenn er einfach sagt, wir nehmen nur 80 000 Flüge.» Mit provozierenden Aussagen werde das Problem nicht gelöst. Fritz Kauf, Präsident des Bürgerprotest Fluglärm Ost, ging hingegen mit dem Waldshuter Landrat hart ins Gericht: «Bollacher hat in der Frage nichts mehr zu sagen. Die Diskussion findet auf höherer Ebene statt.» Gregor Lüthy, Sprecher der Zürcher Volkswirtschaftsdirektion, wollte das Gutachten aus Waldshut inhaltlich nicht kommentieren. Das einseitige Vorgehen Bollachers sei aber «nicht zielführend». (leu)


Kommentar Von Liliane Minor

Schweizer Politiker sind sich nicht bewusst, was sie verlangen

Es wirkt anmassend: Obwohl amtlich bestätigt ist, dass in Süddeutschland keine Lärmgrenzwerte überschritten werden, fordert Landrat Tilman Bollacher weitere Anflugbeschränkungen. Trotzdem dürfen der Kanton Zürich und die Schweiz die Forderungen nicht einfach als überrissen abtun. Denn neben all seiner Polemik hat der Waldshuter Landrat auch ein paar bedenkenswerte Argumente.

Man vergisst im Kanton Zürich nur allzu gern, dass Süddeutschland 80 000 Anflüge im Jahr hinnimmt – im Schnitt ist das alle vier Minuten ein Überflug. Das ist nicht nichts.

Das gilt umso mehr, als es keinerlei rechtliche Pflicht für Deutschland gibt, auch nur einen einzigen Anflug zu ertragen. Dies aber wischt man hierzulande mit dem Argument vom Tisch, das Anflugregime sei halt im Lauf der Zeit so «gewachsen».

Ganz offensichtlich sind sich die hiesigen Politiker nicht bewusst, was sie verlangen: nichts weniger, als dass die deutsche Regierung ihre eigenen Wähler zugunsten eines ausländischen Flughafens schlechter stellt.

Das bedeutet: Die Schweiz nimmt Süddeutschland nicht ernst. So entspannt man keinen Streit.

Tages-Anzeiger, 15.12.2009


Die angesprochene Studie: Bewertung des Fluglärm im Landkreis Waldshut aus lärmmedizinischer Sicht (PDF, 1.4 MB)


Kommentar VFSN: Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt zu dieser Studie Stellung nehmen.



siehe auch:
18\'800 deutsche Grenzgänger (Leserbriefe TA)